Polizeiruf 110 – Sturm im Kopf

Anneke Kim Sarnau, Charly Hübner, von Castelberg. Reichlich Druck im Kessel

Foto: NDR / Christine Schröder
Foto Rainer Tittelbach

„Sturm im Kopf“, der Filmtitel des elften „Polizeiruf 110“ aus Rostock trifft ins Schwarze. Kontrollverlust auf allen Ebenen: Einem mutmaßlichen Mörder fehlt jede Erinnerung und König & Bukow spüren hautnah ihre Ohnmacht gegenüber denen, die das Sagen haben in Politik, Wirtschaft und der eigenen Familie. Aber auch dem Zuschauer bleibt nichts anderes übrig, als sich vom Strudel der Bilder und Aktionen mitreißen zu lassen – mit dem Ergebnis eines lustvollen, spannenden, ziemlich nervenaufreibendes Krimi-Abends. Sarnau und Hübner sind physisch bärenstark und Regisseur von Castelberg lässt es mächtig krachen!

Vier Kopfschüsse – da ist einer auf Nummer sicher gegangen. Oder war Wut im Spiel bei diesem Mord am Chef der Hilgro Wind AG? „Ich glaube, ich hab’ jemanden umgebracht“, stammelt zur Zeit des Leichenfunds ein verwirrter junger Mann am anderen Ende der Stadt. Von den Schmauchspuren bis zum Erpressungsszenario spricht alles für diesen Max Schwarz als Täter. Der war Systemadministrator in jener Firma, die ein milliardenschweres Windparkprojekt zu verantworten hat. Offenbar hatte er etwas gegen seinen Chef oder das Unternehmen in der Hand. Und Schwarz kann sich offensichtlich an nichts erinnern. Ein Trauma hat ihn aus seiner Identität gekickt. „Die Festplatte ist in seinem Kopf, aber das Kabel steckt nicht mehr.“ Er wird nicht der einzige bleiben, der in diesem Fall an die Grenzen der eigenen Persönlichkeit gerät. Und dann sind da noch diese Staatssekretärin, mit der es Katrin König schon mal zu tun bekam, und dieses Gitarrenlied, das der mutmaßliche Täter nach dem Mord brummte und das der Schlüssel zur Lösung des Falls sein könnte.

Polizeiruf 110 – Sturm im KopfFoto: NDR / Christine Schröder
Seltsame „Fugue“: Max Schwarz (Christian Friedel) glaubt, einen Menschen getötet zu haben, hat aber offenbar keinerlei konkrete Erinnerung. Anneke Kim Sarnau & Charly Hübner

Regisseur Christian von Castelberg knallt einem in den ersten Sekunden gleich einmal ein paar markante Bilder und Töne um Augen und Ohren und legt damit sehr passend den Grundstein für diesen elften „Polizeiruf 110“ aus Rostock: „Sturm im Kopf“, der Filmtitel trifft ins Schwarze. Als Zuschauer bekommt man hier schon mal einen kleinen Vorgeschmack aufs Thema Kontrollverlust: Dem Tatverdächtigen fehlt der Zugang zu seinem Ich; der Zuschauer spürt die Allmacht von Kamera und Montage; und auch die Ermittler König & Bukow spüren selten wie nie ihre Ohnmacht gegenüber denen, die das Sagen haben in Politik, Wirtschaft und der eigenen Familie. Was sich bei ihnen im Verlauf des Falles zu einer Erfahrung am Rande des Nervenzusammenbruchs entwickelt, das ist für den Zuschauer ein lustvolles, vornehmlich spannendes und ziemlich nervenaufreibendes Vergnügen. Nach dem Wake-up-Call geht es erst einmal ruhig und konzentriert zur Sache, im Team brodelt es zunächst nur unterschwellig, doch dann rutscht Bukow die Faust aus, bevor mit ihm und seiner Kollegin auf der Zielgeraden völlig die Gäule durchgehen – und es zur wohl packendsten und emotionalsten Sequenz kommt, die das (fast) immer bärenstarke Rostock-Duo bisher ablieferte.

Bildgestalter Martin Farkas zur Kameraarbeit in seinem vierten „Polizeiruf 110“ aus Rostock:
„Die Darsteller spielen die Szene von Anfang bis Ende, und wir begleiten sie mit zwei Kameras. So geben wir ihnen eine möglichst große Freiheit, werden aber auch selber von den Emotionen geführt…
Üblicherweise bekommen die Schauspieler Markierungen, die ihnen anzeigen, wo sie stehen sollen, damit es am besten aussieht. Wir dagegen versuchen ein intensives Erzählen, indem wir den Schauspielern diesen Raum geben und mit ihnen tanzen. Dabei gucken wir natürlich sehr genau hin, um die richtigen Perspektiven, die richtigen Größen, die richtige Emotionalität zu finden.“

Polizeiruf 110 – Sturm im KopfFoto: NDR / Christine Schröder
Übermächtig! Der lange Arm des LKA. Anneke Kim Sarnau & Hansjürgen Hürrig

„Sturm im Kopf“, der Titel bezieht sich also auch auf die beiden Kommissare. Bukow wird von seiner Frau Vivian nicht das zu hören bekommen, was er sich erhofft hatte. Den Blick, den Charly Hübner in der Szene aufsetzt, in der er diese Hiobsbotschaft vermittelt bekommt, ist furchterregend. Da spürt man wieder etwas von diesem Straßenköter, der nur  mit viel Glück auf der Seite des Gesetzes gelandet ist, da sieht man einen, den die Familie menschlich  stabilisiert hat, da stellt sich das Bild von einer tickenden Zeitbombe ein (auf den Fortgang der Geschichte darf man gespannt sein). Aber auch die sonst so kontrollierte Katrin König stößt an ihre Grenzen. Zunächst kommt die Erinnerung an einen alten Fall wieder hoch, der ihr noch immer Schuldgefühle bereitet und in dem das LKA eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Mit ihrem Kollegen kann sie vorerst nicht darüber sprechen. Der ist aufgebraucht und befürchtet, dass er mal wieder – wie vom Seitensprung seiner Frau – nichts mitbekommt. Dass König etwas von der Affäre zwischen Vivian und Thiesler wusste, ihn darüber aber im Unwissen ließ, nimmt ihr Bukow übel. Thiesler im Übrigen ist auch nicht gerade gut drauf. Immerhin wurde sein „Vielleicht Frühstücken?“ von Vivian beantwortet mit: „Vielleicht besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.“ Und selbst für Pöschel, das schlichte Gemüt, erweist sich ein One-Night-Stand mit einer Knaller-Frau nicht unbedingt als ein Knaller für sein Ego.

Anneke Kim Sarnau über das markanteste Bild des Films:
„Er fällt und sie fällt auch, aber er hält sie trotzdem, und man merkt: Die beiden passen aufeinander auf, wie kein anderer Mensch auf sie aufpassen würde, weil sie sich unbewusst verstehen. Es ist ein großer Moment von Nähe mitten in einem riesigen Chaos.“

Polizeiruf 110 – Sturm im KopfFoto: NDR / Christine Schröder
Nach der „Familiensache“ kommt der Straßenköter in Bukow wieder ans Tageslicht. Charly Hübner in „Sturm im Kopf“

Bei diesem Team ist Dampf im Kessel. So etwas kann leicht nach hinten losgehen, kann wie am Reißbrett ausgedacht und somit behauptet wirken. Nichts davon aber beim „Polizeiruf“ aus Rostock. Bei Hübner, Sarnau & Co ist es immer die Physis, die sich in der Wahrnehmung des Zuschauers vor den Plot schiebt. Die Wahrhaftigkeit – um nicht zu sagen „Authentizität“ – der Charaktere, die zudem mit dem Genrehaften kurzgeschlossen wird, dominiert über den Glaubwürdigkeitseindruck, den die Handlung hinterlässt. Es ist aber nicht nur die Körperlichkeit der Schauspieler und die Sinnlichkeit der Inszenierung, die diesen Film nach dem Drehbuch von Florian Oeller trotz all seiner Stürme durch Köpfe und Bäuche durchaus stimmig erscheinen lässt. Es ist auch das gute Timing, das Tempo, das von Castelberg geschickt forciert und das in Oellers Buch mit seinen vielen parallelen Handlungssträngen, die sich gegen Ende immer stärker verschränken, bereits angelegt ist. Die Aufklärung ist – plottechnisch – schon ein bisschen abenteuerlich. Aber das passt auch wieder gut zu einem Krimi, der zwar nach Realismus riecht, aber eben dann doch vor allem Film ist: motion und emotion. Und am Ende kommen sich Bukow und König so nah wie noch nie: eine Umarmung, in der viel Verzweiflung steckt, aber auch tiefes Verstehen. Beide halten sich (gegenseitig fest). Ein Bild, von dem sich die Autoren der nächsten Bücher inspirieren lassen werden.

Charly Hübner zur Entwicklung seiner Figur:
„Bukow steuert in ein Nichts und zurück zu Papa. Er ist im sozialen Fall, und im Moment ist außer Katrin König niemand in Sicht, der ihn auffangen könnte.“

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

NDR

Mit Anneke Kim Sarnau, Charly Hübner, Christian Friedel, Andreas Guenther, Josef Heynert, Uwe Preuss, Fanny Staffa, Hilmar Eichhorn, Ole Schloßhauer, Pheline Roggan, Marie Leuenberger, Hansjürgen Hürrig

Drehbuch: Florian Oeller

Regie: Christian von Castelberg

Kamera: Martin Farkas

Szenenbild: Sonja Strömer

Schnitt: Dagmar Lichius, Antja Zynga

Musik: Eckart Gadow

Soundtrack: Bob Dylan („Blowin’ in the Wind“)

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Florian Oeller

Regie: Christian von Castelberg

Quote: 8,55 Mio. Zuschauer (23,5% MA)

EA: 01.03.2015 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach