Im Gegensatz zum bundesdeutschen TV-Krimi, der sich gern in wohlhabenden Vororten tummelte, war das ostdeutsche „Tatort“-Pendant „Polizeiruf 110“ (seit 1971 im Fernsehen der DDR) immer auch Milieuschilderung. Es ging um einfache Verbrechen einfacher Menschen; soziales Umfeld und gesellschaftliche Realität waren mehr als bloß ein exotischer Hintergrund. Der äußerst krimiversierte Thorsten Näter knüpft mit dem Jubiläumsfilm (seinem ersten „Polizeiruf“) geradezu beispielhaft an diese Tradition an. Da relativ früh klar ist, wer die gesuchten Täter sind, kann sich Näter stark auf ihre soziale Situation konzentrieren. Dank seiner vielen Außenaufnahmen, die in Halle Südstadt entstanden sind, würde „Fehlschuss“, der dreihunderste Film der Reihe, mitunter fast wie ein Dokumentarfilm wirken, hätte Näters Kameramann Joachim Hasse nicht so großzügig mit Farbfiltern operieren müssen.
Trotzdem verdeutlichen die Weitwinkelbilder die Tristesse, in der die Einwohner hier zwischen Plattenbauten und riesigen verödeten Flächen leben. Die menschenleeren und entsprechend leblosen Straßen stehen sinnbildlich für die Perspektive der Jugendlichen, die in dieser Umgebung aufwachsen. Fünf von ihnen haben sich zu einer Bande zusammengeschlossen, die gemeinsam auf Raubzug geht. Als bei einem dieser Einbrüche eine alte Frau stirbt, wird die Diebstahlsserie zu einem Fall für die Hauptkommissare Schmücke und Schneider. Die Bande ist rasch gefunden (auf einem ansonsten verwaisten Spielplatz), aber die Delikte können die beiden Ermittler ihnen zunächst nicht nachweisen.
Um die Kernhandlung herum gruppiert Näter eine Vielzahl von Einzelschicksalen. Nicht minder geschickt verknüpft er die Ermittlungsebene mit einer persönlichen Betroffenheit Schmückes: Der altgediente Ermittler hat die Bande auf frischer Tat ertappt und in Notwehr schießen müssen; der getroffene Junge stirbt später im Krankenhaus. Während Polizisten im US-Krimi nach solchen Vorfällen prompt zur Tagesordnung übergehen, macht Schmücke der Schuss schwer zu schaffen. Zum Psychologen will er trotzdem nicht; er zieht es vor, das Trauma zu verarbeiten, indem er den Fall löst. Näter spitzt das Dilemma zu, als der Kommissar später in einer ähnlichen Klemme steckt und ihm die Bande eine Falle stellt.
Foto: MDR / Saxonia / Wünschirs
Seine kriminalistische Spannung bezieht der Film aus der Suche nach dem Drahtzieher: Irgendjemand muss die Jugendlichen regelmäßig mit wertvollen Tipps versorgen, zumal sie ihr Diebesgut natürlich nicht selbst verhökern können. Unter den Verdächtigen findet sich auch der vorbestrafte Leiter einer Resozialisierungseinrichtung, mit dessen Besetzung sich der Film einen Spaß erlaubt: Er wird gespielt von Florian Martens, dem männlichen Teil des „Starken Teams“ vom ZDF, und natürlich darf man nun rätseln, ob die Prominenz des Darstellers bloß ein Ablenkungsmanöver ist. Die weiteren Nebenrollen sind zwar nicht so populär (unter anderem Waldemar Kobus, Henning Peker und Christina Große), dafür aber nicht minder markant besetzt. Bloß die Bandenmitglieder passen nicht recht nach Halle, zumindest sprachlich: Sie wurden allesamt aus Berlin importiert. (Text-Stand: 5.4.2009)