Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen

Verena Altenberger, Günter Schütter, Dominik Graf. Arbeit (am Film) kann so süß sein

Foto: BR / Hendrik Heiden
Foto Rainer Tittelbach

Eine Polizeitruppe kann der Versuchung nicht widerstehen, aus dem Wissen einer Abhör-Aktion selbst Profit zu schlagen. Es geht um illegale Börsengeschäfte. Und dann werden die Abhörer selbst belauscht – und ausgerechnet Eyckhoff soll gegen die Kollegen ermitteln, gemeinsam mit einem Mann von der Börsenaufsicht, auf den sie bald ein Auge geworfen hat. Die neue „Polizeiruf“-Heldin bestätigt auch in „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ (ARD / Maze Pictures) ihr einnehmendes Wesen, die angenehm zugewandte Art, Charme und Witz, die sie bei ihrem Einstand an den Tag legte. Der Rest ist Schütter und Graf! Weder „Moralapostelei“ mit sozialkritisch entrüstetem Unterton noch eine klassische Spannungs-Dramaturgie im exquisiten HD-Look mit ästhetisierten Oberflächenbildern darf man von den beiden erwarten. Besonders die Exposition ist ein wilder Ritt. Danach fügt sich die Geschichte. Die eine Message gibt es nicht, dafür enthalten einige Dialoge köstliche kleine Wahrheiten. Der Film ist Arbeit. Aber Arbeit kann auch süß sein, wenn man eine Heldin wie die Eyckhoff hat und wenn man es mit einer wie Verena Altenberger zu tun bekommt.

Die kleine Welt einer Polizeitruppe steht Kopf. Beinahe hätten die Münchner Beamten wenigstens ein Mal das große Los gezogen. Das Team um Polizeioberkommissar Wolfgang Maurer (Andreas Bittl) wurde zusammengestellt, um eine Firma zu überwachen, die unter dem Verdacht steht, Insiderwissen zu nutzen, um an der Börse millionenschwere Geschäfte abzuschließen. Meryem Chouaki (Berivan Kaya), Tobias Rast (Dimitri Abold), Roman Blöchl (Robert Sigl) und Callum (Sascha Maaz) können bald der Versuchung nicht widerstehen, aus dem Abgehörten selbst Profit zu schlagen – der Gewinn verspricht einfach, zu enorm zu sein. Doch bevor die Polizisten ihre Aktien gewinnbringend abstoßen können, stoppt die Börsenaufsicht den Handel der Wunderaktie. Plötzlich werden die, die gerade noch andere abgehört haben, selbst belauscht. Ausgerechnet Polizeioberkommissarin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) soll dabei helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, gemeinsam mit Lukas Posse (Wolf Danny Homann) von der Börsenaufsicht. Eyckhoff hat durchaus etwas mitbekommen von dem illegalen Einklinken in den Insiderhandel. Vielleicht hätte sie sogar selbst ein paar Euros vervielfacht, wenn sie flüssig gewesen wäre. Hinhängen will sie ihre Kollegen deshalb nicht. Die aber sind misstrauisch. Keiner will sich in die Karten gucken lassen. Denn es ging hier nicht nur um ein paar Euro. Einer hat sein Erbe verliehen, ein anderer eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, ja sogar in der Asservatenkammer hat man sich bedient. Der Fall zieht Kreise, die Beamten werden vorübergehend suspendiert, die Innere nimmt ihre Ermittlungen auf.

Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennenFoto: BR / Hendrik Heiden
Der Abgang vom rauschenden Kostümfest. u.a. Altenberger, Bittl, Kearney. Ist dieser Abend der Ursprung allen Übels? Auf den Spaß folgt die Gier, dann die Verzweiflung.

Wurde beim Einstand von Verena Altenberger als neuer Münchner „Polizeiruf“-Ermittlerin ein minderjähriger Zeuge minutenlang in Trance versetzt, um zum Kern eines Verbrechens vorzustoßen, so ist es in „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ der Zuschauer selbst, der sich aus teilweise assoziativ aneinandergereihten Einstellungen und wüst montierten Sequenzen den Sinn erschließen muss. Liest sich die Inhaltsbeschreibung auch verständlich – so muss man doch schon sehr genau hinschauen und vor allem hinhören, um die Geschichte in ihren Kausalitäten und Details erfassen zu können. Zu Beginn droht der Zuschauer, im hypnotischen Strudel der scheinbar zusammenhanglosen Bilder und Töne unterzugehen. Das Chaos, das unter den Polizisten ausbricht, lässt Regisseur Dominik Graf („Das unsichtbare Mädchen“, zuletzt: „Hanne“) auch ästhetisch spürbar werden. Die Exposition ist ein wilder Ritt: aus Zeit und Raum gerissene Handlungsbruchstücke, deren Bedeutungen sich erst später erschließen, Überwachungsmonitore, Wackelbilder und schräge Töne, die Heldin, befragt von internen Ermittlern, dazu laut hämmernde Partymusik, deren Quelle, eine Rockband, kurz darauf im Bild zu sehen ist bei einem großen Polizeifest, das – wie sich später herausstellen wird – der Ursprung des ganzen Übels ist. Dann werden die Polizisten beim Namen genannt – und obwohl die Bildebene weiterhin wenig überschaubar bleibt und fragmentär wirkt, bewegt sich die Handlung in etwas verständlicheren Bahnen. Kurz nur währt der Traum vom Geldsegen, die Hoffnung, mit einem Schlag alle Schulden los zu sein. Wenig später beginnt das große Jammern, und mit Hauen und Stechen geht es dramatisch und blutig ins Schlussdrittel.

Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennenFoto: BR / Hendrik Heiden
Kampf ums nackte Überleben, und die Gruppendynamik zieht alle nach unten. Maurer (Andreas Bittl), Chouaki (Berivan Kaya), Blöchl (Robert Sigl) und Rast (Dimitri Abold) sehen sich schon am sozialen Abgrund. Und Eyckhoff (Altenberger), die mit dem Mann von der Börsenaufsicht kungelt, gehört für sie zur Gegenseite.

Alles ist komplizierter…, das bringt auch Autor Günter Schütter (Grimme-Preis für „Polizeiruf 110 – Der scharlachrote Engel“) mit seinem Drehbuch zum Ausdruck. Dass Polizisten auch mal falsche Wege gehen, ist ein alter Hut – auch wenn es in deutschen Reihen-Krimis die Ausnahme bleibt. Dass das kapitalistische Treiben an der Börse moralisch höchst zweifelhaft ist – auch bekannt. Und dass es Polizisten in der weißblauen Landesmetropole schwer haben, finanziell zu überleben, das wird und wurde schon desöfteren im „Tatort“ oder in „Unter Verdacht“ thematisiert. Das alles „ehrlich“ mit geradliniger Dramaturgie und vielleicht noch sozialkritisch mit entrüstetem Unterton auszuerzählen – das war noch nie Schütters Methode. Und so konzentriert er sich auf die Gruppe, auf die, die gemeinsame Sache gemacht haben und die jetzt besser zusammenhalten sollten, um zumindest juristisch einigermaßen unbeschadet aus dem ganzen Schlamassel herauszukommen. Aber mit Freundschaft und Solidarität ist es nicht weit her bei Wolfi, Callum & Co. Und so bleiben von ihnen einige auf der Strecke. Die Gewinner sind wieder die Anderen. Und warum diese ganzen kleinen und großen (Familien-)Tragödien? Die Antwort darauf – „großes Ego eines kleinen Staatsanwaltes“ – wird bereits in den ersten Filmminuten beiläufig gegeben. Man versteht aber erst am Ende.

„Loyalitäten, Freundschaften, Treuebrüche, Verrat, Tod. Schütter erzählt keine schlichte Moralapostelei, sondern ein komplexes Geflecht von Abhängigkeiten, Gier und Verzweiflung.“ (Regisseur Dominik Graf)

Und wie verhält sich die Polizeioberkommissarin in der höchst angespannten Situation? Sie will ihren Kollegen helfen, gibt Ratschläge für möglicherweise mildernde Umstände. Zugleich hat sie ein Auge auf den Mann von der Börsenaufsicht geworfen. Auch hier keine Romanze, keine Affäre der konventionellen Art. Ob ein komödiantischer Kuss oder ein Moment gemeinsam und voll bekleidet unter der Dusche – die körperliche Annäherung der beiden hat mehr von einem Kinderspiel als von erwachsener Leidenschaft. Die neue „Polizeiruf“-Heldin bestätigt dabei ihr einnehmendes Wesen und ihre angenehm zugewandte Art, die sie in „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ an den Tag legte. Und diese Frau hat Witz, macht nicht nur gern mal Faxen und gibt auf der Party den Chaplin, nein, sie kann auch ziemlich direkt und sarkastisch sein und sie hat oft eine klare Haltung, die sie gern pointiert zum Besten gibt (siehe Kasten). Und dann legt Schütter der Österreicherin auch immer wieder so wunderbare Sätze wie „Das ist München bei Nacht – das muss man wegschnapsen“ in den Mund.

Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennenFoto: BR / Hendrik Heiden
„Bessie“ (Verena Altenberger) in ihrem Element. Ein bisschen Charlie, ein bisschen Charleston. Ein Bild aus der Exposition. Sie ist ein assoziativer, wilder Montage-Ritt. Musikalisch ausgedrückt gleicht der filmische Rhythmus dieses Graf-„Polizeirufs“ einem HipHop-Titel, der mit Samples aus Techno, Kraut- und Hardrock arbeitet.

Was ist die Aufgabe der Börsenaufsicht? will Eyckhoff wissen. Posse (nomen est omen?!): „Ehrlich gesagt geht es um den hilflosen Versuch der Verhinderung, dass man Firmen einfach aufkauft, um sie zu zerstören.“ Eyckhoff: „Aber der ganze Kapitalismus beruht doch auf den Vorteilen, die man anderen gegenüber hat.“

Der „Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ ist reizvoll, weil Dominik Graf seine Funktion als filmästhetisches und filmkritisches Gewissen der Nation hier mehr denn je erfüllt. Mit seiner radikalen Filmsprache verweist er nicht nur darauf, wie gleichförmig – bei aller Vielschichtigkeit der Geschichten – das filmische Erzählen in den letzten Jahren geworden ist. Die Unterschiede von Handschriften erschöpfen sich in der Gestaltung des Looks. Auch die HD-Technik hat mit zu dieser Vereinheitlichung der Bildsprache beigetragen. Graf hingegen raut die glatte Oberfläche seit jeher auf. Wer sich heute noch einmal seinen erfolgreichsten Kinofilm, den Thriller „Die Katze“ von 1988 anschaut, der im kollektiven Filmgedächtnis als deutscher Genrefilm abgespeichert wurde, wird erstaunt sein, über dessen unkonventionelle Erzählweise. Manch einer mag Graf als gestrigen Autorenfilmer abtun, der Aufschrei beim Mainstream-Publikum wird sicherlich wie immer groß sein. Viele Kritiker aber mögen nicht nur der Programmvielfalt wegen die Filme von Dominik Graf nicht missen, sondern auch, weil sie einen dazu bringen, über den Status Quo des Mediums nachzudenken, und weil sie das „Natürliche“ als historische Konvention entlarven. Das ist im ersten Moment immer auch anstrengend. Es ist Arbeit, einem Film zu folgen, der ganz bewusst auf die klassische, konventionell inszenierte Spannungsdramaturgie verzichtet und der auf aktuelle Sehgewohnheiten pfeift. Der Gewinn ist dafür am Ende für den einen oder anderen umso größer. Und kann Arbeit nicht auch süß sein, wenn man eine Heldin wie die Eyckhoff hat und wenn man es mit einer Ausnahmeschauspielerin wie Verena Altenberger zu tun bekommt?

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Reihe

BR

Mit Verena Altenberger, Andreas Bittl, Wolf Danny Homann, Berivan Kaya, Dimitri Abold, Robert Sigl, Sascha Maaz, Emma Jane, Ursula Gottwald, Gisela Hahn, Claudia Messner

Kamera: Martin Farkas

Szenenbild: Claus Jürgen Pfeiffer

Kostüm: Martina Müller

Schnitt: Claudia Wolscht

Musik: Sven Rossenbach, Florian Van Volxem. Titelsong: Matti Rouse („May You Pass Through Well“)

Redaktion: Cornelia Ackers

Produktionsfirma: maze Pictures

Produktion: Philipp Kreuzer

Drehbuch: Günter Schütter

Regie: Dominik Graf

Quote: 5,03 Mio. Zuschauer (14,9% MA)

EA: 08.12.2019 20:15 Uhr | ARD

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