Normalerweise geben sich „Mockumentaries“ den Anschein echter Dokumentationen: Der Inhalt knüpft zwar an tatsächliche Ereignisse wie etwa die Mondlandung oder das Ende der DDR an, ist ansonsten aber von vorn bis hinten inszeniert. Mit „Operation Naked“ hat Mario Sixtus zumindest für das deutsche Fernsehen völlig Neues geschaffen: Sein Werk ist kein Film, sondern eine Schnipselsammlung, die im Wesentlichen aus Ausschnitten journalistischer ZDF-Sendungen besteht. Sixtus und der Redaktion des Kleinen Fernsehspiels (der Film ist im Rahmen des Formatlabors Quantum entstanden) ist das Kunststück gelungen, viele prominente ZDF-Köpfe für das Projekt zu gewinnen. Der auf diese Weise entstehende Eindruck dokumentierter Authentizität wird allerdings durch ein entscheidendes Detail getrübt: Da die abgebildeten Ereignisse nicht real sind, musste Sixtus mit Darstellern arbeiten. Bekannte Schauspieler kamen naturgemäß nicht infrage, weil sie die Illusion umgehend zerstört hätten, aber genau dies passiert trotzdem: Die Aussagen mancher Mitwirkenden klingen wie in vielen fiktionalen Reportagen zu glatt und aufgesagt, zumal es sich um Menschen handeln soll, die es nicht gewohnt sind, vor Kameras zu sprechen.
Foto: ZDF / Patrick Jasim
Trotzdem ist „Operation Naked“ ein perfekter Kandidat für die in diesem Jahr erstmals verliehene Innovationsauszeichnung im Rahmen des Grimme-Preises, zumal sich Sixtus mit einem ebenso spannenden wie brisanten Thema befasst. Sein Szenario erinnert an die Welt, die William Gibson vor dreißig Jahren in seiner „Neuromancer“-Trilogie beschrieben hat, und verknüpft eine Vielzahl aktueller Diskussionen: Die Unternehmerin Michelle Spark (Sarah Rebecca Gerstner) leidet unter „Gesichtsblindheit“, sie ist nicht in der Lage, sich Gesichter zu merken. Also hat sie eine Datenbrille entwickeln lassen, die noch viel mehr kann als Menschen zu identifizieren: In rasend schnellem Tempo erfährt der Brillenträger sämtliche Daten, die über eine Person im Netz zu finden sind. Auf diese Weise wird bei einem ersten öffentlichen Versuch die Existenz eines zufälligen Passanten (Gábor Biedermann) vernichtet: Der Mann ist Internatslehrer, gerade dabei, einen Schwulenclub zu besuchen und verliert umgehend seine Arbeit. Prompt bildet sich eine Protestbewegung („Wider die digitale Entblößung“), die den Verkauf der Brillen verhindern will. Weil die Bundesregierung eine entsprechende Verfügung erlässt, verschenkt die Unternehmerin die Produkte. Als die Polizei beginnt, die Brillen zu beschlagnahmen, geraten die Dinge außer Kontrolle. Schließlich kommt bei einem Überfall auf Spark einer ihrer Mitarbeiter zu Tode. Eine Gegenbewegung zur ersten Initiative plädiert unter dem Titel „Operation Naked“ für die völlige Preisgabe aller Daten: Wenn niemand mehr Geheimnisse habe, könne keiner mehr erpresst werden. Und dann stellt sich auch noch raus, dass der Wortführer der Datenbrillengegner eine ganze Menge Dreck am Stecken hat.
Dieser Handlungsentwurf hätte sich auch im Stil der „Dina Foxx“-Filme (ebenfalls vom Kleinen Fernsehspiel) realisieren lassen, aber Sixtus’ Ansatz ist pfiffiger, weil sich die Geschichte und damit auch das Gesamtbild erst im Kopf des Zuschauers zusammensetzen. Er selbst bietet bloß lauter Puzzle-Stücke, die sich jedoch perfekt ergänzen, und das sogar quasi buchstäblich, weil die Schnitte oft mitten im Satz erfolgen und ein neuer Moderator den Faden übergangslos aufnimmt. Allein die Anzahl der ZDF-Mitarbeiter ist imposant. Die Liste reicht von Markus Lanz, Claus Kleber, Jan Böhmermann, Rudi Cerne, Olive Welke, Hans-Joachim Heist (alias Gernot Hassknecht), Dunya Hayali, Peter Hahne und Gert Scobel bis zum stellvertretenden ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen. Alle machen ihre Sache ausgezeichnet, keiner versucht sich als Schauspieler oder gar an einer Selbstparodie, sondern stellt sich seriös in den Dienst des Projekts; das ist wirklich bemerkenswert. Sixtus (Buch, Regie, Produktion, Musik) nutzt die Bandbreite des Programms, um den Stoff in all seinen Facetten zu beleuchten: Mal stehen wissenschaftliche Aspekte im Vordergrund, mal wirtschaftliche, und anderswo menschelt es; „TV-Timeline-Forward-Zapping“ nennt er seine Methode.
Auf diese Weise ist „Operation Naked“ ähnlich wie „Walulis sieht fern“ oder die jüngsten Persiflagen von Olli Dittrich auch praktizierte Fernsehkritik: Sixtus bedient sich freigiebig in dem Baukasten, den das ZDF-Programm ihm zur Verfügung stellt, und entlarvt auf diese Weise, wie solche Sendungen funktionieren. Offenkundigstes Beispiel sind mehrere Aussagen eines Mitglieds der Ministerialbürokratie. Der Staatssekretär kommentiert mit seinen Statements die jeweils aktuelle Entwicklung, aber seine Einführung ist jedes Mal dieselbe: Er steigt aus seinem Dienstwagen aus und geht in sein Büro; ein typisches Versatzstück aus Reportagen und Nachrichtenbeiträgen. Nur Fiktion ist zum Glück eine Talkshow, in der die Zuschauer die Redebeiträge der Teilnehmer mit Hilfe einer App-Funktion beenden können. Das Datensichtgerät jedoch, das seinem Träger von der Paarungsbereitschaft bis zum Kontostand alle möglichen biografischen Details der Menschen in seiner Umgebung verrät, scheint im Zeitalter von Google & Facebook nur eine Frage der Zeit. (Text-Stand: 6.2.2016)