Nur eine Handvoll Leben

Annette Frier, Meletzky, Henriette Piper. Tränenreich, lebensbehjahend, klug erzählt

Foto: WDR / Wolfgang Ennenbach
Foto Tilmann P. Gangloff

Das traurig-schöne TV-Drama „Nur eine Handvoll Leben“ von Franziska Meletzky (Regie) & Henriette Piper (Buch) erzählt von einer Frau, die in zweiter Ehe mit Anfang 40 noch mal schwanger wird und in der 22. Woche erfährt, dass ihr Wunschkind unter dem Gen-Defekt Trisomie 18 leidet; die Überlebenschancen des Babys sind praktisch gleich null. Die Mutter steht vor der schweren Frage, ob sie das Kind zur Welt bringen oder abtreiben soll. Dass das gerade von Annette Frier vorzüglich gespielte ARD-Melodram dennoch nicht deprimiert, liegt an der zweiten Ebene der Geschichte, dem Zusammenwachsen einer Patchworkfamilie.

Die schlichte Inhaltsangabe kann der Traurigkeit, die dieser Film, eine WDR-Produktion, hervorruft, nicht mal ansatzweise gerecht werden: In der 22. Woche erfährt eine schwangere Lehrerin, dass ihr Kind den schweren Gen-Defekt Trisomie 18 hat und die Geburt, wenn überhaupt, vermutlich nur einige Tage oder Wochen überleben wird. Die Information wirft sie verständlicherweise völlig aus der Bahn. Die Vernunft, ihr Mann und alle Ärzte raten zum Schwangerschaftsabbruch, doch sie bringt die Abtreibung nicht übers Herz.

Nur eine Handvoll LebenFoto: WDR / Wolfgang Ennenbach
Ein Argument gegen die Abtreibung. Annette (Frier) besucht Frau Amend (Sonja Baum), deren Tochter Trisomie 18 hat. Die Kleine ist ein ganz besonderes Kind.

Autorin Henriette Piper („Nichts mehr wie vorher“) und Regisseurin Franziska Meletzky gelingt das Kunststück, dieser unendlich traurigen Geschichte trotzdem schöne Seiten abzugewinnen. Das ist neben dem Drehbuch nicht zuletzt den formidablen Darstellern zu verdanken. Annette Frier hat schon öfter gezeigt, dass sie zu Unrecht lange als reine Komödiantin galt. Jetzt ist sie gleich zweimal innerhalb weniger Wochen in bewegenden Dramen zu sehen: erst als Chirurgin in dem Organspendefilm „Zwei Leben. Eine Hoffnung“ (Sat 1), nun in „Nur eine Handvoll Leben“. Aber während die Ärztin nur mittelbar von den Schicksalen ihrer Schutzbefohlenen betroffen ist, bildet Annette Winterhoff das emotionale Epizentrum der Geschichte. Der familiäre Rahmen, den Buch und Regie angenehm beiläufig erläutern, verleiht dem Baby zudem eine besondere Bedeutung. Annette und ihr Mann Thomas bilden eine Patchwork-Familie: Beide haben eine Tochter mit in die Ehe gebracht, wollen aber auch ein gemeinsames Kind; für Annette ist es mit Anfang 40 die vermutlich letzte Chance.

„Nur eine Handvoll Leben“ ist ein Melodram; die Geschichte verursacht von Anfang an einen dicken Kloß im Hals, und wer am Schluss nicht heult, hat kein Herz. Aber Meletzky (zuletzt „Konrad und Katharina“), die unter anderem 2012 den sehenswerten Furtwängler- Doppel-„Tatort“ („Wegwerfmädchen“ & “Das goldene Band“) inszeniert hat, drückt nie unnötig auf die Tränendrüse. Stattdessen zeigt der Film, wie die Betroffenen reagieren. Thomas, der selbst Arzt ist, flüchtet sich in die Sachlichkeit, aber auch er geht mal zum Weinen vor die Tür. Christian Erdmann spielt seinen Part als ruhenden Pol der Familie ganz ausgezeichnet und sehr sympathisch; erstaunlich, dass er nicht schon längst viel öfter Hauptrollen bekommen hat. Frier wiederum hat gemeinsam mit Meletzky einen interessanten Weg gefunden, um zu vermitteln, was die Information mit der Mutter macht: Annette wird völlig aus der Bahn geworfen, versucht jedoch, gerade gegenüber den Kindern die Haltung zu bewahren. Sehr nachvollziehbar beschreibt der Film, wie sie für sich zu übersetzen versucht, was die mit medizinischen Fachbegriffen gespickten Aussagen der Ärzte in Wirklichkeit bedeuten.

Nur eine Handvoll LebenFoto: WDR / Wolfgang Ennenbach
Die Geburt ihres Kindes und der Kampf darüber, ob sie es überhaupt bekommen sollen, haben Annette (Frier) & Thomas (Erdmann) einander noch näher gebracht.

Dass die Hauptfigur ihrer Tochter, dem älteren der beiden Mädchen, nicht sagt, was mit dem Baby los ist, hat allerdings fatale Folgen: Julia (Aleen Jana Kötter) wird bald 16, hadert ohnehin mit der familiären Konstellation und möchte zu ihrem Vater ziehen, der sich aber lieber seiner neuen Freundin widmet. Eine Babyschwester ist das letzte, was Julia jetzt brauchen kann, weshalb sie das Ultraschallfoto verbrennt. Thomas’ Tochter Eva (Ella Frey), die einige Jahre jünger ist und viel gelassener mit der neuen Situation umgeht, warnt die ältere, das bringe bestimmt Unglück, und prompt gibt sich Julia später die Schuld am Schicksal des Babys. Dass sie versucht, ihren „Fehler“ durch eine Art Voodoo-Zauber rückgängig zu machen, ist ein ausgesprochen verblüffender, aber aus Teenager-Sicht völlig plausibler Einfall. Die Gewichtung der Rollen ist ohnehin eine große Stärke des Drehbuchs. Die beiden Mädchen sind nicht bloß Nebenfiguren, sondern beinahe gleichwertige Partnerinnen im Ensemble. Umso wichtiger war es, angemessene Darstellerinnen zu finden. Die junge Ella Frey hat die etwas einfachere Rolle, was ihre Leistung nicht schmälern soll. Aleen Jana Kötter spielt den typischen pubertären Trotz, der überall Feinde sieht und sich mit vorsätzlichen Kränkungen revanchiert, ebenso glaubwürdig wie die tiefe Schockiertheit des Mädchens, als es zufällig von der Behinderung erfährt, anschließend im Internet nach einer Erklärung für Trisomie 18 sucht und auf Bilder von furchtbar entstellten Babys stößt.

Meletzky hat den in den wichtigsten Positionen ausschließlich von Frauen verantworteten Film insgesamt sehr ruhig inszeniert; zu den vielen bewegenden Momenten gehört auch die Begegnung der schwangeren Annette mit einem Trisomie-18-Baby. Interessant auch, dass die Regisseurin und ihre Kamerafrau Bella Halben („Landauer – Der Präsident“) das ärztliche Personal unscharf in den Hintergrund drängen oder mitunter gar auf die Stimme reduzieren. Die gelegentlichen extremen Nahaufnahmen wirken indes etwas unmotiviert. Die Mädchen hat Meletzky dagegen ausgezeichnet geführt. Gerade die späteren Szenen, in denen sich aus anfänglicher Ablehnung Freundschaft entwickelt, sind mitentscheidend für die lebensbejahende Botschaft des Films, der trotz des tränenreichen Endes nicht deprimierend ist: Es geht zwar auch weiterhin um das dem Tod geweihte Kind, aber mehr & mehr schiebt sich das Schicksal der Lebenden in den Vordergrund. Deshalb erweist sich Annettes Entschluss, das Baby zur Welt zur bringen, als goldrichtig: weil das gemeinsam erlebte Schicksal das Quartett zu einer echten Familie zusammenwachsen lässt. (Text-Stand: 25.2.2016)

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Fernsehfilm

WDR

Mit Annette Frier, Christian Erdmann, Aleen Jana Kötter, Ella Frey, Samuel Weiss, Katharina Schmalenberg, Uta Maria Schütze, Manuela Alphons, Moritz Führmann

Kamera: Bella Halben

Szenenbild: Wolfgang Baark, Mark Olaf Formanek

Kostüm: Elisabeth Kraus

Schnitt: Jürgen Winkelblech

Musik: Eike Hosenfeld

Soundtrack: Nick Cave & The Bad Seeds („Into My Arms“)

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures

Produktion: Michael Souvignier, Heike Voßler

Drehbuch: Henriette Piper

Regie: Franziska Meletzky

Quote: 3,16 Mio. Zuschauer (9,7% MA)

EA: 23.03.2016 20:15 Uhr | ARD

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