Eine Kleinstadt am Rhein. Unfreundlich ist nicht nur die Jahreszeit. Als nach dem Sexualmord an einem elfjährigen Jungen der 16jährige Daniel vorläufig festgenommen wird, ist die Stimmung im Ort äußerst geladen. Politik und Presse sind in heller Aufregung, der Mob marschiert und im Netz kursieren Posts, die die Todesstrafe fordern. Unter dem Druck der Öffentlichkeit ermittelt die Polizei bald nicht mehr in alle Richtungen. Für den zu Unrecht verdächtigen Jungen und dessen Familie beginnt eine mehrtägige Leidenszeit. Daniel verstrickt sich immer weiter in Widersprüche und bald geht sogar ein Riss durch seine Familie: Der Vater mag sich nicht auf sein Bauchgefühl verlassen; versteckte Männermagazine und eine ominöse Website machen ihn misstrauisch. Offen stellt er seinen Sohn zur Rede, er will und kann nicht abwarten, bis der DNA-Abgleich jeglichen Zweifel an Daniels Unschuld ausräumt. Jetzt heißt es besonders für ihn, den Scherbenhaufen der Familie zusammenzukehren…
Foto: Sat 1 / Willi Weber
Der Fernsehfilm „Nichts mehr wie vorher“ ist inspiriert von dem wahren Emder Mordfall „Lena“. Auch im März 2012 saß ein Unschuldiger mehrere Tage in U-Haft. Dieser 17-Jährige zog in den Sozialen Netzwerken so viel Hass auf sich, dass am Ende ein junger Mann wegen Aufruf zur Lynchjustiz angezeigt und verurteilt wurde. Autorin Henriette Piper hat Passagen der Chronologie der tatsächlichen Ereignisse übernommen; das Wesentliche aber, das Drama eines sich unverstanden fühlenden Teenagers und eines Familiengeflechts, das zu reißen droht, hat sie hinzu erfunden und zum Zentrum der Geschichte gemacht. Trotz sich formierender SOKO wird der Film zu keinem Zeitpunkt zu einem klassischen Ermittlungs-Krimi. Vielmehr entwickelt sich ein Bedrohungsszenario, das sich in den ersten Filmminuten auf den sprachlosen, introvertierten Teenager konzentriert, den eine ganz andere Angst als seine Familie (und den Zuschauer) umtreibt: die Angst, dass seine homosexuellen Neigungen ans Tageslicht kommen könnten, die Angst davor, wie sein strenger Vater darauf reagieren würde. Die Angst, eines Verbrechens überführt zu werden, ist für den Jungen dagegen sehr viel weniger real als diese Angst, die seine sexuelle Orientierung mit sich bringt. Er war’s ja nicht. Er weiß das. Deshalb kann er sich auch nicht vorstellen, dafür belangt zu werden.
Nach der Verhaftung verlagert sich die bedrohliche Situation auf die Familie des Jungen: Der Familienfrieden wird zunächst von außen gestört. Die Medien stürzen sich auf den Fall, Journalisten belagern das Haus. Aber auch die Arbeit der Polizei, insbesondere die PR-Arbeit in Form einer Pressekonferenz, die Volkes Stimme mit neuer Munition („erdrückende Beweislast“) versorgt, erhöhen den Druck auf die Mutter, den Vater, die ältere Teenager-Schwester und den jüngeren Brüder von Daniel. Bald halten sie diesem Druck nicht mehr Stand und gehen verschiedene emotionale Wege. Und so ist am Ende zwar ein Alptraum vorbei, aber die Familie dürfte vor ihrer bisher schwersten Aufgabe stehen.
Foto: Sat 1 / Willi Weber
„Nichts mehr wie vorher“ zeigt, was ein vermeintlich kleiner Justizirrtum für große Folgen haben kann. Der Film spiegelt gesellschaftliche Mechanismen, aber auch Phänomene wie die hysterische Gleichsetzung von „schwul“ und „Triebtäter“, und macht deutlich, wie sie im Gesellschaftlichen und im Privaten zusammenwirken können. Autorin Henriette Piper und Regisseur Oliver Dommenget setzen auf die emotionale Anteilnahme der Zuschauer (allein die Musik trägt dabei ein bisschen zu dick auf) und eine kluge Wie-Spannung. Dass bei dieser umfassenden interaktiven und gesellschaftspolitischen Ausrichtung der Geschichte einige Faktoren, beispielsweise Politik und Presse, etwas stereotyp geraten sind, muss bei „nur“ 90 Minuten wohl so sein. Ohnehin hätte man sich Vieles noch ausführlicher vorstellen können, noch mehr Situationen in der Familie, weitere Nebengeschichten ihrer Mitglieder. Zu diesem Gedanken kommt man angesichts der großartigen Schauspielerleistungen: Annette Frier zeigt zum zweiten Mal in einer durch und durch ernsthaften Rolle (ohne jegliche Teilzeit-Ironie), dass sie auch das kann; Götz Schubert, der sich nach Filmen wie „Tage die bleiben“ oder „Der Turm“ endgültig in die erste Reihe gespielt hat, bestätigt auch mit seiner fragilen Vaterfigur diesen Rollen-Trend; und die 19-jährige Elisa Schlott gehört schon seit Jahren zu den viel sagenden Gesichtern ihrer Generation. Ein, zwei Szenen mehr mit ihr und Filmbruder Jonas Nay („Homevideo“), der mit der Introvertiertheit und Verweigerungshaltung seiner Figur die vergleichsweise schwierigste Aufgabe zu bewältigen hatte, hätte man sich gewünscht, um vielleicht noch etwas mehr von der Befindlichkeit des Jungen zu erfahren.