Mit Harpunen schießt man nicht

Eugene Boateng, Jahnke, Polak, Kuhlmann, Gersina. Familie ist nicht vorübergehend

Foto Tilmann P. Gangloff

„Mit Harpunen schießt man nicht“ (ZDF / all-in-production) ist dem doofen Titel zum Trotz eine mehr als sehenswerte, toll gespielte Komödie über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einer alten Frau und einem seit seiner Kindheit in Deutschland lebenden schwarzen Taxifahrer. Beiden droht die Abschiebung: ihr ins Altenheim, ihm nach Ghana. Schon allein diese Kombination würde für eine anspruchsvolle Handlung im Stil von „Ziemlich beste Freunde“ reichen, aber Drehbuchautor Stefan Kuhlmann nutzt die Kombination als Basis für eine Geschichte über eine äußerst ungewöhnliche Patchwork-Konstellation. Gerade in der ersten Hälfte erfreut der Film durch eine beeindruckende Pointenvielzahl, zumal Regisseur Peter Gersina das Drehbuch angemessen temporeich umgesetzt hat, aber der Film hat mehr zu bieten als Gags am laufenden Band. Dunkle Subthemen sorgen für einen guten Kontrast.

Wenn ein Hand- oder Kunstwerk ansonsten tadellos ist, fällt ein Makel umso mehr ins Auge. Bei dieser zu 99 Prozent gelungenen Komödie ist es ein Furz, der angesichts der aller Heiterkeit zum Trotz seriösen Handlung und erst recht der vielen geistreichen Dialoge völlig deplatziert klingt. Absurd ist auch der Titel, für den sich hoffentlich irgendjemand beim ZDF schämt. Ursprünglich hieß die Geschichte „Oma ihr klein Häuschen“, und das passt perfekt, denn darum geht es: Als die verwitwete Gerda nach einem Sturz ins Krankenhaus muss, will Tochter Linda das Elternhaus hinter dem Rücken der Mutter verkaufen. Daraus wird natürlich nichts, was auch mit Gerdas Altersstarrsinn zu tun hat: Die nur scheinbar rüstige alte Frau wäre zwar in einer Seniorenresidenz tatsächlich besser aufgehoben, hat aber keine Lust auf ein Dasein, dessen einzige Perspektive der Tod ist. Als rettender Engel entpuppt sich ein Afrikaner, dem Gerda ein Angebot macht, das er nicht ablehnen kann. Wie Autor Stefan Kuhlmann diese Win/Win-Situation eingefädelt hat, wirkt in der Beschreibung zwar komplett konstruiert, ist dank der temporeichen Umsetzung durch Peter Gersina aber völlig plausibel.

Mit Harpunen schießt man nichtFoto: ZDF / Susanne Bernhard
Aus dem Arbeitstitel „Oma ihr klein Häuschen“ wurde der peinliche 80er-Jahre-Titel „Mit Harpunen schießt man nicht“. Eugene Boateng, Gerburg Jahnke & Muiné Keune

Die Handlung beginnt mit einer Taxifahrt und einer telefonischen Auseinandersetzung: Simon (Eugene Boateng), als Kind mit seiner Mutter aus Ghana nach Deutschland gekommen, hat kürzlich erfahren, dass er seit neun Jahren Vater ist. Nun besteht er auf regelmäßigem Kontakt zu seiner Tochter, aber seine Wohnung ist viel zu klein. Prompt kriegt er auch Krach mit seinem Fahrgast, weil er sich nicht auf den Verkehr konzentriert: Linda (Isabell Polak) ist mit einer Maklerin verabredet. Als Simon später in seinem Taxi den Hausschlüssel findet, erscheint ihm dies als Wink des Schicksals: Bis Linda einen Käufer gefunden hat, kann er seiner Prinzessin ein angemessenes Heim bieten. Allerdings hat er die Rechnung ohne die zwischenzeitlich aus der Klinik geflohene Gerda (Gerburg Jahnke) gemacht: Sie bedroht den vermeintlichen Einbrecher mit einer Harpune und zwingt ihn kurzerhand zum Pflegedienst.

Soundtrack: Robbie Williams („Rock DJ“), Daft Punk („Get Lucky”), John Lloyd Young („Walk Like A Man”), Gene Kelly, Debbie Reynolds, Donald O’Connor („Good Morning”)

Schon allein diese Paarung würde für eine anspruchsvolle Geschichte im Stil von „Ziemlich beste Freunde“ reichen, denn zwischen den beiden gänzlich unterschiedlichen Menschen entwickelt sich eine innige Beziehung. Tatsächlich nutzt Kuhlmann die vortrefflich gespielte Kombination (nach einer Idee von Produzentin Annette Reeker alias Anna Tebbe) aber bloß als Basis für eine Geschichte über eine äußerst ungewöhnliche Patchwork-Konstellation, denn nach und nach finden sich sämtliche Beteiligten aus unterschiedlichsten Gründen in Gerdas Eigenheim vor den Toren Münchens ein; auch Linda, auf die Simon ein Auge geworfen hat. Ihre ständigen Zänkereien sind aus seiner Sicht ein klarer Beleg für die gegenseitige Zuneigung. Seine Tochter Feli (Muiné Keune) bringt umgehend Leben ins Haus, und schließlich taucht auch noch ihre Mutter Dora (Giulia Goldammer) auf, wobei dem grundsympathischen, aber mitunter etwas begriffsstutzigen Simon entgeht, dass sich Dora und Linda keineswegs zum ersten Mal begegnen. Alle versichern, die Konstellation sei nur vorübergehend; aber Familie ist nicht vorübergehend.

Mit Harpunen schießt man nichtFoto: ZDF / Alina Hartwig
Gruppenbild mit Harpune. Die Patchworkfamilie um Gerda (Gerburg Jahnke), Simon (Eugene Boateng), Feli (Muiné Keune) und Gerdas Tochter Linda (Isabell Polak)

Gerade in der ersten Hälfte erfreut der Film durch eine beeindruckende Pointenvielzahl, zumal Gersina, maßgeblich für Qualität der RTL-Serie „Der Lehrer“ mitverantwortlich, Kuhlmanns Geschichte auch dank der munteren Musik (Gert Wilden Jr.) angemessen temporeich erzählt. Das Drehbuch hat jedoch weitaus mehr zu bieten als Gags am laufenden Band, denn schließlich legt sich ein Schatten über die Geschichte: Dass Mutter und Tochter regelmäßig in Streit geraten, hat einen tragischen Hintergrund. Außerdem geht es Gerda längst nicht so gut, wie sie tut; ihre ständigen Schmerzattacken führen schließlich beinahe zu einer Katastrophe. Dass die alte Frau und der junge Mann so rasch zueinander finden, hat auch mit dem gemeinsamen Status zu tun, denn beiden droht die Abschiebung: ihr aufs Abstellgleis, ihm in die Heimat seiner Vorfahren; er ist zwar in Deutschland aufgewachsen, aber bloß geduldet.

Trotz der dunklen Subthemen verbreitet der Film auch dank des gelungenen Zusammenspiels von Bild und Musik enorm viel gute Laune. Einige Momente sind einfach nur übermütig, wenn Linda beispielsweise das Schlimmste befürchtet, als Simon ihr mit scheinbar blutbesudelten Gummihandschuhen die Tür öffnet. Die Scherze über typische Alterserscheinungen bewegen sich mitunter gefährlich nah am Rand zur Klamotte, sind aber mit Ausnahme der erwähnten Flatulenzen niemals plump. Nicht lustig ist im Grunde auch eine Begegnung Simons mit der Polizei: Als er ein starkes Schmerzmittel besorgen soll, ruft die Apothekerin eine Streife, weil sie den Schwarzen für einen Kriminellen hält. Gersina nutzt die Szene, um wenig später mit einem einfachen Mittel auch optisch witzig zu erzählen: Bei Felis Ankunft zeigt die Kamera sie aus der gleichen bedrohlich wirkenden Untersicht wie kurz zuvor den Polizisten (Thomas Limpinsel). Zwischendurch darf Eugene Boateng, vor seiner Schauspielkarriere als Tänzer erfolgreich, zu den Klängen des „Singin’ in the Rain“-Klassikers „Good Morning“ seine ganze positive Energie ausleben.

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Eugene Boateng, Gerburg Jahnke, Isabell Polak, Muiné Keune, Giulia Goldhammer, Thomas Limpinsel, Nele Kiper

Kamera: Jochen Stäblein

Szenenbild: Valentina Freising

Kostüm: Mo Vorwerck

Schnitt: Moune Barius

Musik: Gert Wilden Jr.

Redaktion: Sebastian Hünerfeld

Produktionsfirma: all-in-production

Produktion: Boris Jendreyko, Zeljko Karajica

Drehbuch: Stefan Kuhlmann – Idee: Anna Tebbe

Regie: Peter Gersina

EA: 07.09.2023 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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