Nur die Liebe lässt ihn das Vergessen vergessen
Alexander ist verwitwet, längst pensioniert und wohlhabend genug, um trotz seines Alters das Leben in vollen Zügen zu genießen. Der einst erfolgreiche Brückenbauarchitekt hat sich noch einmal verliebt. Das jugendliche Objekt seines charmanten Begehrens ist die Kellnerin Belinda, die sich gern verwöhnen lässt, aber die gemeinsamen Stunden mit ihm auch sichtlich genießt. Doch ins aphrodisierende Schlürfen der Austern mischen sich erste Störgeräusche. Irritationen, kleine Aussetzer, sporadische Erinnerungslücken. Geräusche gehen Alexander immer öfter auf die Nerven, bekannte Gesichter kommen ihm seltsam fremd vor – und dann steht er plötzlich wieder im Büro seiner alten Firma. Allein seine junge Geliebte lässt ihn ab und zu das Vergessen vergessen. Als er dann aber mit ihr nach Italien in sein Ferienhaus fährt, holt ihn seine Vergangenheit kein bisschen ein, dafür bekommt Belinda eine Ahnung davon, weshalb er sich ausgerechnet sie ausgeguckt hat. Die Reise nimmt ein jähes Ende – und Alexanders erwachsene Kinder spüren, dass sie handeln müssen, um ihren Vater zu schützen. „Seit einem halben Jahr gibt’s deine Diagnose: Du bist unheilbar an Demenz erkrankt.“
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
„’Der Goldfisch’ war lange Zeit auch der Arbeitstitel unseres Fernsehfilms. Denn wie ein stummer Fisch hinter Glas nimmt Hauptfigur Alexander manchmal die Welt um sich wahr.“ (Anja Helmling-Grob, ZDF-Redakteurin)
Subjektiv aus der Perspektive des Kranken erzählt
In den letzten Jahren sind zahlreiche Fernsehfilme zum Thema Alzheimer und Demenz entstanden, den gegenwärtigen Schreckgespenstern einer Gesellschaft mit steigender Lebenserwartung. Autor-Regisseur Gernot Krää hat nun eine solche schmerzliche Verfallsgeschichte um die Aspekte des Glücks und der Lebenslust im Alter erweitert. Er holt damit quasi die ZDF-Zielgruppe bei ihren Gelüsten und Ängsten ab, eine Generation, die im Wohlstand der Nachkriegskonsumgesellschaft aufgewachsen ist und im Alter nicht auf Stil und Spaß verzichten möchte. Dadurch mag der Film zwar auf den ersten Blick leichter „verdaulich“ erscheinen, aber gerade dadurch, dass man sehen kann, was dem traurigen Helden im Film so alles verlorengeht, wird die die tiefe Tragik seines Schicksals nachhaltig erfahrbar. In „Mein vergessenes Leben“ versucht Krää („Paulas Geheimnis“), so subjektiv wie möglich aus der Perspektive der Hauptfigur zu erzählen. In anderen Filmen wie „Stiller Abschied“, „Die Auslöschung“ oder „Mein Vater“, alles erstklassige TV-Produktionen, rückt die Sicht der Angehörigen – sei es als Stimme der Gesellschaft oder als sehr intime Verlust-Erfahrung – stark ins Zentrum. Krääs Ansatz, seine Hauptfigur, die zunehmend einsamer wird, die Leere und Verzweiflung spürt und für die es kein selbstbestimmtes Leben mehr geben wird, nicht auch noch dramaturgisch zu entmündigen, ist bemerkenswert und mutig.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
„Das Phänomen Demenz hat inzwischen auch die vermeintlich ‚ewig Jungen’ erreicht, die Generation der lebenslustigen 60er Jahre, die es vielleicht besonders schwer hat, Alter und Vergänglichkeit zu akzeptieren.“ (Gernot Krää)
Sinnlich-filmische Äquivalente für den langsamen „Verfall“
Denn es ist eine Herausforderung, mit dem „Patienten“ als Protagonisten zu zeigen, wie dieser Mann von Welt sich und seinen Nächsten abhanden kommt. Krää verzichtet auf die fernsehfilmtypische, klar abgesteckte, geradlinige Handlungsführung, wodurch besonders deutlich wird, wie sich die Wahrnehmung des Kranken, das raumzeitliche Kontinuum seiner Wirklichkeit, langsam auflöst. Den „Leerstellen“ der Erzählung, den plötzlichen, harten Schnitten, der vergleichsweise episodischen Dramaturgie entsprechen die Aussetzer und Erinnerungslücken der Hauptfigur. Sinnliche Äquivalente für den langsamen „Verfall“ der von Robert Atzorn überaus glaubwürdig dargestellten Hauptfigur mit ihren zahlreichen mal mit Affekten aufgeladenen, mal regungslosen Gesichtern, den Brüchen und Stimmungs-Katastrophen, liefern auch Bildgestaltung und Tonspur. Selten in TV-Filmen sind Geräusche für die Geschichte so wichtig wie in „Mein vergessenes Leben“. Der Zuschauer hört sie quasi durch die Ohren der Hauptfigur und wird so hautnah Zeuge der schleichenden Krankheit. Sinnlich eindrucksvoll sind auch die ausgefallenen, gelegentlich bizarren Perspektiven, die markanten Bildausschnitte und beeindruckenden Panoramen, die der junge Kameramann Kaspar Kaven für diesen Film findet. Das Gefühl der Jugend spiegelt sich in den Lichtern der Großstadt oder den satten Farben des Nachtlebens. Im Haus des Sohns herrschen andere Stimmungen vor; hier ist die Schwere, die auf den Schultern aller lastet, spür- und sichtbar. Hier schwimmt aber auch der Fisch, der dem Projekt seinen Arbeitstitel gab: ein Goldfisch namens Fridolin. „Ein Goldfisch kann sich nur an die letzten 60 Sekunden erinnern“, belehrt der Enkelsohn seinen Großvater, „aber der Fridolin ist trotzdem mein Freund.“ Die Wehmut, die auf dieser Szene legt, bekommt so auch etwas Tröstliches.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
„Ich denke, dass die Leichtigkeit und Leidenschaftlichkeit der älteren Menschen heute eher eine allgemein neue Sicht der Gesellschaft aufs Alter beinhaltet, und weniger direkt mit den sogenannten 68-ern zu tun hat. Man ist mit 60, 70 nicht alt. Man achtet auf seine Gesundheit, seine Ernährung, seine sportlichen Ambitionen, seine sozialen Kontakte, und hat Freude am Leben.“ (Robert Atzorn)
Die junge Frau als Gegenentwurf: Muse für den Lebensabend
Die schöne Belinda, sinnlich und natürlich von Natalia Belitski verkörpert, könnte für einige Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen zum Knackpunkt des Films werden, da ihre Motive, sich auf diesen rund 40 Jahre älteren Mann einzulassen, nur zu erahnen sind. Zwar wird die „Beziehung“ („warum schläfst du mit mir?“) gleich in der ersten Szene verhandelt und leicht ironisch aufgelöst, auch erklärt die junge Frau später, dass sie mit ihm nicht (nur) wegen seines Geldes zusammen ist, sondern weil sie ihn wirklich mag. Krää hatte offenbar auch den Eindruck, dass das noch einmal gesagt werden musste für die Zuschauer, die weniger den Gesamtentwurf eines Films sehen, sondern lieber nach „Glaubwürdigkeit“ fragen. Dabei steht Belinda ja als Gegenentwurf zum geistigen Verfall, als letztes Sprudeln des Jungbrunnens. Sie ist die Muse für den Lebensabend des Helden. Narrativ interessiert sie allein in ihrer Funktion für den Vergessenden. Die Geliebte hat weniger Eigenleben als die Tochter, mit der der Vater zumindest noch einen Konflikt aus der Vergangenheit (seine Affären und ihr „Dichthalten“ gegenüber der Mutter) ansatzweise löst. Ein Film, der eher ein phänomenologisches als ein abbildrealisch-psychologisches Szenario des Vergessens entwirft, der aber darf sich eine solche märchenhaft-romantische Setzung durchaus erlauben. (Text-Stand: 29.7.2015)