„Ich trug etwas Bitteres vor mir her“, sagt die Erzählstimme im Intro über das Seelenleben der frisch verlassenen Kathi Grabowski. Jördis Triebel in der Titelrolle ist das Bittere nicht anzusehen. Während die Kamera an geputzten Balkonfassaden von Marzahn entlangfährt, geht die End-Vierzigerin beherzt ihren Weg. Es ist der Pfad aller Desillusionierung. Ehemann Heiko (Holger Bülow) ist weg, Tochter Lilli (Maja Bons) geht nach Australien. Kathi muss jetzt einfach nur aushalten und Geld verdienen. Die Möglichkeiten in Marzahn sind begrenzt. Aber Kathi lebt gern hier. Die Totale zeigt, warum: Da verschachteln sich Plattenbauten wie ein säuberlich angeordnetes Häuserpuzzle aus dem Holzbaukasten. Balkone sind bunt und frisch gestrichen, das breite Pflaster frisch gefegt. Wohnungssuchende Berlins, kommt nach Marzahn, scheinen die künstlich anmutenden Bilder zu rufen.
Foto: Degeto / UFA / Oliver Vaccaro
Drinnen wird’s schon enger. Unangenehm nah fährt die Kamera an Hühneraugen, Zehennägel und Krampfadern heran. Der Kosmetiksalon von Jenny Chan (Yvonne Yung Hee Bormann) macht alle Menschen gleich. Egal, ob Ex-Stasi-Bonze, bescheidenes Rentnerpaar, quirlige Alte, trockener Alkoholiker oder frustriertes Mutter/Tochter-Gespann: Alle genießen Kathis Berührungen und ihr offenes Ohr. Kleine Tricks bewahren die Begegnungen im Salon vor zu viel Seifigkeit. Die Behandlung des störrischen IM-Opas (Hermann Beyer) inszeniert Regisseurin Clara Zoe My-Linh von Arnim („Die Zweiflers“) als vergnügliches Machtspiel, in dessen Verlauf Kathi zeigt, was man mit einem elektrisch verstellbaren Behandlungsstuhl alles machen kann. Gern mal knallen ihre Einweg-Handschuhe auch wie warnende Signaltöne ans Ohr der Kundschaft. Kehrt die Kamera dann zu Kathis Augen zurück, wird klar: Die Frau ist ein Engel.
Soundtrack: Lola Young („Messie“), The Paper Kites („Paint“), Eva Weißenborn („Für mich soll’s rote Rosen regnen“), Black Pumas („Fire“), Elliott Smith („Between the Bars“), The Cars („Drive“), The B-52’s („Dance this mess around“), Stereolab („Changer“), Supertramp („School“), Carrie Underwood („Before He Cheats“), Annie Lennox, No more I love You’s“)
Nach „Familienfest“ (Krankenschwester), „Warten auf’n Bus“ (Busfahrerin), „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ (Fabrikarbeiterin) und „Micha denkt groß“ (Masseurin mit Zusatzausbildung Aerobic) überzeugt Jördis Triebel erneut als Zupackende. Dem Klischee von der rotzigen DDR-Malocherin längst entwachsen, zieht sie sich mit dem weißen Kittel einfach das Beste aller Arbeitswelten über. Man schaut ihr genauso gern zu wie dem betagten Ensemble, das sich allein mit der Nahaufnahme auf alte Füße „nackt“ macht.
Foto: Degeto / UFA / Oliver Vaccaro
Das Visuelle, noch mehr das Akustische, setzt in „Marzahn Mon Amour“ leise Akzente hinzu. Neben einem interessanten Pop-Soundtrack reduziert sich die musikalische Begleitung auf verhaltene Töne aus der Quetschkommode, A-Capella-Gesängen und gesummten Melodien. Interessant ist der Wechsel von Außen- und Innenaufnahmen. Die Geschichten der Alten auf dem Behandlungsstuhl werden, sobald sich das Grundgefühl ihrer Seelen herausschält, durch Miniaturen im Außen gedoppelt. Da klettert ein Junge aufs Fußballtor, umarmt seinen Ball und schaut in den Himmel. Das Glück wohnt auch in Marzahn. Oder einem Kind fällt beim Balanceakt auf Beton die Eiskugel herunter. Vom Pech verfolgt. Draußen springen Skater auf dem Pflaster, tanzen Mädchen auf dem Parkdeck, suchen junge Rapper vergeblich nach einem Ort, wo ihnen beim Video-Dreh kein Rollator durchs Bild rollt. Das ist komisch und bitter zugleich. Die Alten finden im Draußen nicht mehr statt.
„Marzahn Mon Amour“ ist ruhig erzählt und auf den ersten Blick so unspannend wie das Leben eben ist (Buch: Leona Stahlmann, Niklas Hoffmann, Antonia Rothe-Liermann). Unter dieser Oberfläche erzählen kurze Rückblenden wie nebenbei deutsch-deutsche Geschichte(n). Die drei Frauen aus der „Wellness Oase“ tanzen im Mittelpunkt und sie tanzen in den entscheidenden Momenten tatsächlich. Zum Finale spielt von Arnim mit Standbildern und Slow-Mo, variiert das schwer auszuhaltende Gefühl des Stillstands, zeigt die Ruhe vor dem Sturm, umkreist das Trio und endet bei Kathis Stimme aus dem Off. „Das Bittere ist verschwunden und mit ihm der letzte Rest jugendlicher Arroganz“ zieht sie Bilanz und blickt direkt in die Kamera. Wer Respekt vor der Lebensleistung und den Geschichten alter Menschen kitschig findet, muss Marzahn nicht lieben. Schade ist, wie respektlos die ARD eine ältere Zuschauerschaft mit IQ über Krankenhausserien-Durchschnitt verprellt. Statt zur Hauptsendezeit läuft „Marzahn Mon Amour“ um 23.50 Uhr. Kann man auch gleich sein lassen.