Wenn sich ein Regisseur an einen der größten Klassiker überhaupt wagt, muss er ein ziemlich großes Ego haben; oder eine Vision. Aber im Grunde kann er nur scheitern. Fritz Langs Film „M“ war 1931 einer der ersten deutschen Tonfilme und hat mit seiner herausragenden handwerklichen Qualität Maßstäbe gesetzt. Thematisch gilt das erst recht: Weil die Polizei versagt, als eine Mordserie an Kindern die Berliner Eltern in Angst und Schrecken versetzt, nimmt die Unterwelt die Mördersuche selbst in die Hand. Verbrecher als Ordnungshüter, und das gegen Ende der Weimarer Republik: Die Analogie ist offenkundig. Dies ist auch der Schnittpunkt zwischen damals und heute. Die finsterste Figur der sechsteiligen Serie von Evi Romen (Buch) und David Schalko (Buch und Regie) ist keineswegs der Mörder, der dank der Verkörperung durch Gerhard Liebmann spätestens gegen Ende sogar eher Mitgefühl als Abscheu erregt. Der junge rechtskonservative Innenminister (Dominik Maringer) nutzt die Gunst der Stunde und greift auch unter dem Einfluss eines reaktionären Verlegers (Moritz Bleibtreu) bis hin zum Ausnahmezustand zu immer radikaleren Maßnahmen; schließlich kündigt er an, sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe einzusetzen, wenn er erst mal Kanzler sei. Diese Ebene mit ihrem unübersehbaren Bezug zu den aktuellen populistischen Strömungen und den Parallelen zur politischen Lage in den frühen Dreißigerjahren ist eine echte Legitimation für die Neuauflage des Films. Die von faschistischer Philosophie geprägten Gespräche zwischen den beiden Männern sind gerade auch dank Bleibtreu von einer fatalen Faszination. Vielleicht fühlte sich Schalko, hierzulande vor allem durch sein bühnenhaftes Zwei-Personen-Stück „Toulouse“ (ARD 2018) bekannt, deshalb bemüßigt, diesen Zauber zu brechen: Damit sich der Minister als Narzisst entlarvt, betrachtet er sich während der Telefonate mit dem Verleger in einem riesigen Spiegel; gern auch mal nackt. Aber das ist nur eine der vielen Irritationen, mit denen Schalko die Serie aus dem TV-Alltag heraushebt.
Sterne-Vergabe:
3,5 Sterne von Gangloff stehen 5,5 Sterne von Tittelbach gegenüber. Daraus ergeben sich die 4,5 ttv-Sterne.
Foto: TVNow / Pichler, Pertramer
Als Fritz Lang und seine Frau Thea von Harbou vor knapp neunzig Jahren das Drehbuch zu „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ entwickelten, waren die Mordserien von Fritz Haarmann, der zwei Dutzend junge Männer auf dem Gewissen hatte, und Peter Kürten, dem „Vampir von Düsseldorf“, noch in bester Erinnerung. Der eine war wenige Jahre zuvor hingerichtet worden, das Todesurteil gegen den anderen wenige Wochen vor der Premiere dürfte „M“ weiteren Zulauf beschert haben. Die Kinobesucher konnten sich dem Film also mit einem gewissen wohligen Gruseln hingeben. Heutzutage sind Serienmörder nichts Ungewöhnliches, zumindest im Fernsehen. Romen und Schalko hatten daher die Wahl: Entweder erzählen sie eine ganz andere Geschichte; oder sie erzählen die Geschichte ganz anders. Sie haben sich für einen Mittelweg entschieden, und das ist selten die beste Lösung.
Die WELT sieht es anders, erkennt Wichtiges in der Serie: „Wer musterhaft sehen möchte, wie sich unbescholtene Bürger radikalisieren, Sündenböcke aufgebaut werden und Demagogen das Sicherheitsbedürfnis zur Errichtung eines Polizei-Staats nützen, sollte diese 300 Minuten Zeit investieren.“ (Hanns-Georg Rodek)
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Der Kern der nun im anfangs tief verschneiten heutigen Wien angesiedelten Handlung orientiert sich am Original: Die kleine Elsie hat ihre Winterjacke auf dem Spielplatz vergessen; sie wird nie wieder nach Hause zurückkehren. Elsie ist bereits das zweite verschwundene Mädchen; das erste, Leyla, war ein Flüchtlingskind, da haben die Behörden offenbar noch keinen Anlass gesehen, den ganzen Apparat in Bewegung zu setzen. Als es zu regnen beginnt, kommen drei Leichen am Ufer der Donau zum Vorschein. Das dritte Mädchen hatte niemand vermisst; seine drogensüchtige Mutter ist schon vor Wochen gestorben, wie sich später rausstellt. Die Polizei mobilisiert alle Kräfte, aber es gibt nur einen einzigen Hinweis: Der Mörder pfeift gern eine schon von Lang als Leitmotiv verwendete Melodie aus Edvard Griegs „Peer Gynt“ („In der Halle des Bergkönigs“), die auch von der Filmmusik immer wieder aufgegriffen wird; und natürlich wird sie ihm am Ende zum Verhängnis.
SPIEGEL online sieht die Serie zwar beim falschen Sender, findet sie aber „absolut sehenswert“… „Faschismus, Fake-News, Flüchtlingspolitik: Autor und Regisseur Schalko baut daraus eine Mörderjagd, die sich nicht den Regeln des aktuellen Serienfernsehens unterwirft. Sozialer Realismus interessiert ihn so wenig wie psychologisches Identifikationspotenzial. Selbst die Opfer-Eltern wirken in ihrer Trauer egoistisch motiviert. Ein Land frisst seine Kinder. Schalkos „M“-Version ist eine bewusst artifiziell inszenierte Schauermär mit Müttern, die ihre Babys vergiften und zu jeder Grausamkeit bereit scheinen, und Vätern mit erstaunlichem Desinteresse an der Familie. Und doch ist die Serie dem Lang-Klassiker, der seinerzeit ja auch nach einer Phase expressiver Licht-und-Schatten-Kinematografie für seine neue Sachlichkeit gefeiert wurde, im Kern sehr nah … Wir wünschen dieser Serie ein großes Publikum; wo sie es finden soll, bleibt uns schleierhaft.“ (Christian Buß)
Soundtrack: David Lynch („Cold Wind Blowin’“), Dorit Chrysler (“Animoso”), Ajax (“Jumpin”), Krzysztof Komeda feat. Christine LeGrad (“Le Départ”), The Shangri-Las (“Past, Present and Future”)
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Bis es soweit ist, nimmt die Serie allerdings mancherlei Umwege, von denen einige nicht zielführend sind. Dazu zählt vor allem die bizarre Beziehung zwischen Elsies Eltern. Der Vater (Lars Eidinger) hat ein Verhältnis mit einer angeblich schwangeren Verkäuferin (Marleen Lohse), die Mutter (Verena Altenberger) hat dem Kind dessen eigene Fäkalien gespritzt, damit es dauernd kränkelt. Ein klassischer Fall von Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom und psychologisch sehr interessant, weil diese Menschen aus den erfundenen Krankheiten Dritter den eigenen Lebenssinn gewinnen; aber für die Geschichte unerheblich. Anfangs ähnlich rätselhaft ist ein Mann im Fuchsmantel (Udo Kier), der sich verdächtig macht, weil er unter anderem auf dem Spielplatz herumstreicht, auf dem Elsie vermutlich verschwunden ist. Er geht einem fast schon obsessiv betriebenen Hobby nach und fotografiert mit seiner alten analogen Kamera Menschen. Auf einer der unzähligen Aufnahmen ist der Mörder zu sehen, aber völlig unscharf, und das ist durchaus sinnbildlich: Schalko zeigt seine eigentliche Hauptfigur zunächst so beiläufig, dass sie kaum wahrzunehmen ist, weil sie in immer wieder andere Verkleidungen und Maskierungen schlüpft; die Wandlungsfähigkeit von Gerhard Liebmann ist in der Tat verblüffend. Der Österreicher ist hierzulande am ehesten als Kaffeehausbesitzer in der ZDF/ORF-Reihe „Spuren des Bösen“ bekannt, war mit seinem Allerweltsgesicht in einem „Tatort“ aus München, „Der Tod ist unser ganzes Leben“ (2018), die perfekte Besetzung für einen Mörder, der im Grunde ein Niemand ist, und hat in dem ORF-Krimi „Wenn Du wüsstest, wie schön es hier ist“ (2015, im ZDF erst 2018 ausgestrahlt) einen Dorf-Gendarmen mit einer reizvoller Unscheinbarkeit und vielen Zwischentönen versehen. Seine letzte Maskerade in „M“ entspricht exakt diesem Polizisten.
Die ZEIT sieht es ähnlich wie Gangloff: „Das große Sittengemälde, das Schalko wohl intendiert hat, erkennt man nicht. Lang schaffte es damals, verschiedene Stilelemente wie Realismus und Groteske zu einem stimmigen Ganzen zusammenzubauen; in der Serie wirkt es eher wie eine Aneinanderreihung von Miniaturen, von denen einige großartig, andere eher belanglos sind. Ein Gesamtkunstwerk ist daraus nicht geworden.“ (Carolin Ströbele)
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Rings um den Mörder gruppiert das Drehbuch viele zum Teil prominent besetzte Nebenrollen. Die Charaktere stellen eine mitunter skurril anmutende Mischung aus Märchenfiguren und realistischen Rollen dar. Dirk Felsenheimer, besser bekannt als Bela B und Mitglied der Band Die Ärzte, spielt einen in der Rollenübersicht „Bleicher Mann“ genannten Zeitgenossen, der sich in einem großen gleißend hellen Raum mit lauter kindergroßen Schaufensterpuppen umgibt und auf leicht mystische Weise mit dem Mörder in Verbindung steht; die Figur wirkt, als habe Schalko der Serie einen Hauch von „Twin Peaks“ verleihen wollen. Deutlich diesseitiger ist eine Psychologin (Julia Stemberger), die ihr Verhältnis mit dem Minister auch dann nicht beendet, als er ein von ihr gegründetes Präventionszentrum für Pädophile der Öffentlichkeit zum Fraß vorwirft. Erstes Opfer des entsprechenden „Shitstorms“ wird der Besitzer eines durch sein Fünfzigerjahre-Ambiente wie aus der Zeit gefallenen Schoko-Ladens. Viele andere Figuren sind jedoch allzu bemüht rätselhaft oder wirken durch ihre übertriebene Darstellung wie Karikaturen. Das gilt vor allem für Sophie Rois als Königin der Unterwelt. Die Frau ist eine skrupellose Sadistin, die eine Prostituierte zur Fellatio mit einem Kaktus zwingt, aber Rois verkörpert sie wie das weibliche Pendant zum Räuber Hotzenplotz.
Das eigentliche Manko dieser Koproduktion zwischen dem ORF und dem RTL-Videoportal TV Now ist jedoch die Sprunghaftigkeit. Das Drehbuch verzichtet auf eine echte Hauptrolle oder einen Sympathieträger. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Nebenfiguren, die teilweise nur den Status von Gastrollen haben. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen, aber weil die Handlung dauernd von einer Ebene zur nächsten hüpft, ist es Schalko nicht gelungen, die vielen Stränge zu einer großen Erzählung zu verknüpfen. Spannung im Sinne von Nervenkitzel kommt ohnehin erst im letzten Akt auf, als die Verbrecher den Mörder in die Kanalisation und damit buchstäblich in die Unterwelt hetzen. Das anschließende Tribunal, als sie über ihn zu Gericht sitzen, ist dann wieder deutlich zu lang geraten. So bleibt letztlich die Bewunderung fürs Handwerk. Viele Einstellungen wirken wie für eine Fotografie komponiert. Was bei Lang das Spiel mit Licht und Schatten war, eine Reminiszenz an den Expressionismus der Stummfilmjahre, ist für Schalko und Kameramann Martin Gschlacht die Arbeit mit der Farbe. Viele Einstellungen sind schwarzweiß oder erinnern mit ihrem Sepia-Ton an hundert Jahre alte Fotografien. Umso stärker stechen die roten Farbtupfer hervor: die Jacke von Elsie im Schnee, der Ball, mit dem der Mörder ein Mädchen anlockt, die Perücke eines Clowns, mit dem Schalko nicht zuletzt dank Stephen Kings „Es“ auf eine falsche Fährte lockt, ein Strauß Rosen in einer Kneipe; und das rote M auf der Schulter des Mörders. Auch der Vorspann belegt die durchaus erkennbare Liebe zum Detail: Die Schneekugeln, die der Mörder für jedes Opfer zu Boden wirft, enthalten ein Detail aus der jeweiligen Episode (etwa den Kaktus in Folge zwei). Am Ende ist der Täter zwar gefasst, aber triumphieren kann nur der Minister, den Schalko in einer martialischen Ansprache die Gestik eines anderen österreichischen (An-)Führers kopieren lässt. Die letzten Bilder zeigen eine freundliche, helle Welt, die scheinbar wieder in Ordnung ist. Um es mit Mel Brooks zu sagen: Frühling für Hitler.