Liberame – Nach dem Sturm

Mücke, Wokalek, Achour, Hmeidan, Ströher, Wiersch, Kolmerer. Mit weiter Perspektive

Foto: ZDF / Aaron Foster
Foto Thomas Gehringer

„Liberame – Nach dem Sturm“ (ZDF / Bantry Bay Productions) ist als Parabel über Europa und das tausendfache Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer eine hoch politische Drama-Serie: Mehrere Jahre, nachdem sieben Menschen ertrunken waren, treffen sich die Überlebenden eines gekenterten Flüchtlingsbootes und die Besatzung einer Segeljacht in Hamburg wieder. Wie war es wirklich um deren Hilfsbereitschaft bestellt? Hatte jemand das Abschleppseil angeschnitten, damit es im Sturm reißt? Sorgfältige Figurenzeichnung und vorzügliche Besetzung in einem spannenden Drehbuch um das Weiterleben nach einem schweren Verlust und die Suche nach Erlösung. Beide „Seiten“ werden gleichwertig behandelt. Gerade auch die Geschichten der Geflüchteten, die in Deutschland den Neuanfang suchen, berühren und überzeugen. Mediathek-Premiere: ein Monat vor der TV-EA.

„Sie haben unsere Tochter getötet. Ihr habt sie getötet.“ Am Ende der ersten Folge spricht Zahra Sabia (Kenda Hmeidan) Klartext. Die aus Syrien stammende Ärztin schleudert Jan Garbe (Friedrich Mücke) den harten Vorwurf – und ihren Schmerz – bei einem beklemmenden Wiedersehen ins Gesicht. Vor Jahren waren sich beide auf dem Mittelmeer begegnet. Jan als Kapitän der Segeljacht „Liberame“ mit vier weiteren Deutschen auf Ferientörn, Zahra an Bord eines überfüllten Flüchtlingsbootes. Die Deutschen schleppten das in Not geratene Boot ab, doch als ein Sturm aufzog, riss das Schleppseil – angeblich war es angeschnitten worden. Das Boot kenterte, sieben Menschen ertranken, darunter Jasmin, eins von zwei Kindern von Zahra und Ismail (Mohamed Achour). Als der als Taxifahrer arbeitende Ismail Jahre später Jan in Hamburg wiederfindet, will der „Liberame“-Kapitän über das damalige Drama „in Ruhe sprechen“. Und so versammeln sich Beteiligte und Betroffene der Tragödie um den Tisch der Familie Garbe, bemüht um ein höfliches Miteinander und einen ungezwungenen Tonfall. Bis Zahra die falsche Harmonie nicht mehr aushält. Großartig, wie Schauspielerin Kenda Hmeidan, Mitglied des Berliner Gorki-Ensembles, die tiefe Erschütterung ihrer Figur ganz ohne dramatische Gesten, nur mit dem Ausdruck in ihren Augen und minimalen Bewegungen erspüren lässt. Hmeidan ist eine der Entdeckungen in dem vorzüglichen Ensemble.

Liberame – Nach dem SturmFoto: ZDF / Christian Huck
Das Flüchtlingsboot, das Garbe (Friedrich Mücke) und seine Freunde abgeschleppt hatte, ist verschwunden. Ist das Abschleppseil gerissen oder wurde es abgeschnitten?

Aber hat Zahra auch recht? Mit den knapp sieben, hochintensiven und präzise inszenierten Minuten am Ende der ersten von sechs Folgen geht die Drama-Serie „Liberame“ so richtig los. Drehbuch (Astrid Ströher, Marco Wiersch) und Regie (Adolfo J. Kolmerer) nehmen sich die Zeit, um eine Vielzahl an Figuren einzuführen, die eine möglichst weite Perspektive auf das schreckliche, seit vielen Jahren andauernde Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer abbildet. Das unterscheidet die Serie etwa von dem Kinodrama „Styx“, das sich auf den Kampf der von Susanne Wolff gespielten Hauptfigur mit den Elementen sowie auf die bei einer Rettung auf See auftretenden Konflikte konzentriert. Zugleich verzichtet „Liberame“ im Vergleich mit der mit einem Grimme-Preis (für das Konzept einer europäischen Erzählung) ausgezeichneten Serie „Eden“, die mehrere Handlungsebenen und Schauplätze in verschiedenen Ländern miteinander verbindet, auf einen umfassenderen Ansatz zum Thema Flucht und Migration.

„Aktuell erleben wir einen Krieg in Europa, und es sind mehr Menschen auf der Flucht, als wir es bei der Entwicklung der Serie für möglich gehalten hätten. Für viele Menschen geht es dabei noch lange nicht ums Ankommen, sondern ums Überleben – wie es seit vielen Jahren zahllosen Geflüchteten auf dem Mittelmeer geht, einer der weltweit gefährlichsten Flüchtlingsrouten. Und wir müssen uns die gleiche Frage stellen wie die deutschen Segler in der Serie: Könnten wir mehr tun und weniger zögern?“ (Jasmin Maeda und Elke Müller, Redaktion)

Vordergründig steht also ein typischer Krimi-„Whodunit“ im Raum, weshalb zwischenzeitlich auch die Polizei ins Spiel kommt. Wer ist für den Tod der sieben Menschen verantwortlich? Wurde das Seil tatsächlich manipuliert? Am Ende der zweiten Folge entschließt sich Ismail, Anzeige zu erstatten. Sein Bruder Bilal (Tariq Al-Saies), der mit Ismail, Zarah und deren jugendlichem Sohn Said (Shadi Eck) in einer Wohnung lebt, sagt aus, er habe gesehen, wie das Seil angeschnitten wurde. Aber in der Serie geht es um weit mehr als um kriminalistische Aufklärung oder um juristische Finessen, sondern um das Weiterleben nach einem schweren Verlust, um Verdrängung, missbrauchtes Vertrauen, Schuld und Vergebung. Die Jacht trägt einen vielsagenden Namen: „sed libera nos a malo“, heißt es auf Lateinisch im Vaterunser, „denn erlöse uns von dem Bösen“. Der Ausdruck „Erlöse mich“ (lat.: „Libera me“) hat zwar einen religiösen Klang, ist hier aber nicht nur in einem spezifischen Glaubens-Sinn gemeint.

Liberame – Nach dem SturmFoto: ZDF / Reiner Bajo
Akono Chuke (Emmanuel Ajayi) will, dass jemand dafür bezahlt, was auf dem Mittelmeer passiert ist. Es sieht allerdings nicht nach einer solchen „Lösung“ aus.

In Rückblenden wird nach und nach erzählt, was auf dem Mittelmeer vor und während jener verhängnisvollen Sturm-Nacht geschah. Abgesehen von diesen Sprüngen in eine zeitlich knapp begrenzte Vergangenheit bleibt „Liberame“ in der Gegenwart, in der das Wiedersehen jedoch eine neue Dynamik entfaltet. Enorm wichtig: Beide „Seiten“ werden in Drehbuch und Inszenierung gleichwertig behandelt und nehmen in der Filmerzählung einen breiten Raum ein. Außerdem wird die eindeutige Hierarchie in den Szenen auf See zwischen deutschen „Rettern“ und den armen, hilflosen Flüchtenden relativiert. Auch dafür steht insbesondere die Figur der Zahra, die in Hamburg als Ärztin und nebenbei an ihrer Promotion arbeitet. Die Sabias sind eine moderne muslimische Familie, in der der Mann am Herd steht, wenn die Frau von der Arbeit kommt. Ismail ringt mit seinen religiösen Überzeugungen, doch vor allem sein Bruder Bilal wirkt in Deutschland verloren, was angesichts der Narben auf seinem Rücken und des nach und nach enthüllten persönlichen Schicksals zunehmend nachvollziehbar wird.

Das Thema Rassismus kommt vor allem in der Figur des aus Nigeria geflohenen Akono (Emmanuel Ajayi) ins Spiel, dessen Vater ebenfalls ertrunken war und der nun in Hamburg von der Abschiebung bedroht ist. Akono wird ebenfalls nicht als passiver Hilfsempfänger dargestellt: Er trainiert Kinder und Jugendliche in einem Fußballverein, aber als Schwarzer stößt er womöglich noch auf besondere Vorbehalte – auch bei Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern, was die differenziert angelegte Serie zumindest andeutet. Gleichzeitig erlebt Bilal unerwartete Hilfe von einer aus Polen eingewanderten Café-Besitzerin, sodass die Serie eine gewisse Vielfalt abbildet, ohne den Fokus auf das eigentliche Drama zu verlieren.

„Es ist auch ein sehr persönliches Thema für mich. Ich komme aus Caracas in Venezuela, nach Syrien das größte Herkunftsland von Flüchtlingen. Mit neunzehn Jahren verließ ich mein Heimatland allein und beschloss, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Ich konnte mich also gut mit den Ideen und Fragen in ,Liberame – Nach dem Sturm‘ identifizieren. Bei dieser Serie wollten wir uns nicht nur auf die Ereignisse der Nacht und die Frage nach der Schuld konzentrieren, sondern über sechs Folgen immer tiefer in die subjektive Wahrnehmung der Protagonisten eintauchen, ihre Emotionen ergründen und erfahren, wie sich ihre Leben nach dieser schrecklichen Erfahrung veränderten und dennoch weitergehen mussten.“ (Adolfo Kolmerer, Regisseur)

Liberame – Nach dem SturmFoto: ZDF / Christian Huck
Eine Frage kühler Vernunft? Als nachts ein Sturm aufkommt, müssen Jan Garbe (Mücke), Helene Neumann (Weisse), Daniel Schilling (Benjamin) und Fiona Garbe (Belitski) entscheiden, wohin sie mit dem Boot der Geflüchteten fahren wollen.

Die Geschichten der deutschen Figuren, die nicht von Folter, Flucht und traumatischem Verlust betroffen sind, sondern bei denen es „nur“ um Liebe, Vertrauensbruch und Karriere geht, wirken weniger dramatisch. Dafür schwebt die Frage nach dem persönlichen Anteil jedes Einzelnen an der Tragödie sechs Folgen lang im Raum. Friedrich Mücke spielt den Jan Garbe überzeugend als verantwortungsvollen Kapitän, der Mitgefühl zeigt und sich um Ausgleich bemüht, aber nicht immer aufrichtig ist. Ebenfalls auf der Liberame waren in jener Nacht Jans zurückhaltende Ehefrau Caro (Johanna Wokalek) und seine bisweilen schroffe Schwester Fiona (Natalia Belitski), die ihren Bruder als „Flüchtlingsversteher“ verspottet. Das Trio arbeitet auch im gemeinsamen Familienunternehmen, einer kleinen Schiffswerft, zusammen. Fionas Ex-Freund Daniel (Marc Benjamin) ist ein unsteter Typ, der sich vor einiger Zeit aus dem Staub gemacht hat, aber in Folge drei plötzlich wieder auftaucht. Und dann ist da noch die mit der Familie befreundete Helene (Ina Weisse), eine Anwältin, die während der Nachtwache im Sturm betrunken eingeschlafen war. Für einen Lichtblick in der Konfrontation zwischen Einheimischen und Eingewanderten sorgt die Generation der Kinder. Die von den Eltern genervte Elly Garbe (Mina-Giselle Rüffer) und der ernste Said freunden sich an, allerdings sorgen sie mit einer etwas naiv anmutenden Aktion auch für zusätzliche Spannung.

Natürlich hat diese Serie als Parabel auf Europa und die Realität des anhaltenden, tausendfachen Sterbens politische Relevanz. Als das Flüchtlingsboot in Sicht kommt, bringt das die Liberame-Besatzung in ein Dilemma. Zwar ist die Rettung gefährdeter Menschen in der Seefahrt Gesetz, aber die Flüchtlinge auf europäischen Boden zu bringen, könnte für die fünf Deutschen, insbesondere den Kapitän, eine Anklage zur Folgen haben. Die geheime Abstimmung an Bord, ob das Flüchtlingsboot abgeschleppt werden soll, endet knapp mit drei zu zwei Stimmen pro Rettung. Doch der Sturm nötigt Jan Garbe zur Kursänderung, was ebenso nachvollziehbar erscheint wie die verzweifelte Angst der Flüchtlinge davor, wieder nach Libyen zurückgebracht zu werden. Die hochdramatische Serie führt die fatalen Konsequenzen der Situation auf dem Mittelmeer vor Augen. Es scheint so, als würde diese reale Tragödie nur noch Gleichgültigkeit in weiten Teilen Europas auslösen – eine makabre Routine, die wohl auch keine noch so gute Serie aufzubrechen vermag.

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ZDF

Mit Friedrich Mücke, Johanna Wokalek, Mohamed Achour, Kenda Hmeidan, Ina Weisse, Tariq Al-Saies, Natalia Belitski, Marc Benjamin, Emmanuel Ajayi, Mina-Giselle Rüffer, Shadi Eck, Monika Oschek, Stephanie Japp, Jean-Philippe Adabra, Sinha Melina Gierke

Kamera: Christian Huck

Szenenbild: Thomas Freudenthal

Kostüm: Petra Kilian

Schnitt: Laura Wachauf

Musik: Roman Fleischer, Tim Schwerdter

Redaktion: Elke Müller, Jasmin Maeda

Produktionsfirma: Bantry Bay Productions

Produktion: Eva Holtmann

Drehbuch: Astrid Ströher, Marco Wiersch

Regie: Adolfo J. Kolmerer

Quote: Folgen 1-3: 2,23 Mio. Zuschauer (8,9% MA); Folgen 4-6: 1,75 Mio. (6,6% MA)

EA: 30.07.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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