Kranke Geschäfte

Stetter, Urzendowsky, Woll, Harfouch, Betz, Urs Egger. „Jetzt haben wir nur noch uns“

Foto: ZDF / Dusan Martincek
Foto Rainer Tittelbach

Karl-Marx-Stadt, 1988. Ein linientreuer Oberleutnant der Stasi will es nicht glauben: Kann es sein, dass westdeutsche Pharmakonzerne ihre noch nicht zugelassenen Medikamente an ahnungslosen ostdeutschen Bürgern testen, dass die DDR ihre Kranken zu Versuchskaninchen des Klassenfeinds macht? „Von 1964 bis 1990 fanden in der DDR über 900 Medikamenten-Studien an mindestens 50.000 Bürgern statt. Die DDR erhielt für die Vermittlung ihrer kranken Bürger Devisen in Millionenhöhe“, informiert ein Insert am Ende des Films, dem letzten von Urs Egger. „Kranke Geschäfte“ (ZDF / Rat Pack, An der Gassen Film) erzählt vom Niedergang dieses Parteisoldaten, der sich mit seinem Privatfeldzug gegen eine Klinik, mehr und mehr ins Abseits manövriert, bis der Staat unerbittlich zurückschlägt. So wie bei der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose der Körper gegen sich selbst rebelliert, so rebelliert auch der Held gegen das System seines Landes. Die Dramaturgie ist zwar wohlbekannt, dafür aber die Narration dicht, die Besetzung namhaft bis in kleinste  Rollen, und Florian Stetter gelingt die Antipathie-Sympathie-Gratwanderung seiner Figur sehr überzeugend.

Ein linientreuer Oberleutnant der Stasi fühlt sich um seine Ideale betrogen
Karl-Marx-Stadt, 1988. Armin Glaser (Florian Stetter) will es nicht glauben. Kann es sein, dass westdeutsche Pharmakonzerne ihre noch nicht zugelassenen Medikamente an ahnungslosen ostdeutschen Bürgern testen, dass die DDR ihre Kranken zu Versuchskaninchen des Klassenfeinds macht? Der linientreue Oberleutnant der Stasi fühlt sich um seine Ideale betrogen. Aufmerksam geworden ist Glaser durch die Krankengeschichte seiner Tochter Kati (Lena Urzendowsky): Als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wird, nimmt sich die Ärztin Dr. Sigurd (Corinna Harfouch) des Teenagers an. Erste Ungereimtheiten bei der Behandlung nimmt der berufsbedingt misstrauische Mann zum Anlass, die Klinik genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei werden seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Nach dem Veto seiner Frau Marie (Franziska Woll) lässt er Kati allerdings von der renommierten, systemkritisch eingestellten Neurologin weiterbehandeln. Denn es gibt keine Alternative. Mit dem DDR-Allheilmittel Cortison lässt sich MS nicht erfolgreich behandeln. Doch die Methodik der mit dem Westen vereinbarten Test-Reihe macht die Hoffnung auf Heilung zum Glücksspiel.

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Geschacher um Millionen. Medikamenten-Kurier Diller (Johannes Allmayer) und Günther Jungclausen (Matthias Matschke) haben ihre Schweizer Konkurrenz genau im Blick. Sie wollen das Geschäft mit der Doppelblindstudie für sich gewinnen.

Die DDR erhielt für die Vermittlung kranker Bürger Devisen in Millionenhöhe
Dieser Armin Glaser ist ein „Zweihundertprozentiger“, ein harter Hund, einer, der sich auf der Sonnenseite der Macht befindet und seine Privilegien zu nutzen versteht. Der Fernsehfilm „Kranke Geschäfte“ erzählt vom Niedergang dieses Parteisoldaten, der sich mit seinem Privatfeldzug gegen ein Krankenhaus, mehr und mehr ins politische Abseits manövriert, bis das politische System unerbittlich zurückschlägt („ich lasse mir meinen Staat von dir nicht kaputtmachen“). Glaser sticht in ein Wespennest. Denn die Klinik in Karl-Marx-Stadt ist kein Einzelfall. Und die DDR-Ärzte boten ihre Dienste nicht etwa an gegen kleine Konsum-Zuwendungen aus dem Westen wie Cognac, Zigaretten oder Walkmen, das Ganze war zwei Nummern größer. „Von 1964 bis 1990 fanden in der DDR über 900 Medikamentenstudien an mindestens 50.000 Bürgern statt. Die DDR erhielt für die Vermittlung ihrer kranken Bürger Devisen in Millionenhöhe“, informiert ein Insert am Ende des Films. Den Weg von der zuverlässigen Stütze des Systems zum Opfer des autoritären Staats erzählt der renommierte Autor Johannes Betz („Der Tunnel“ / „Die Spiegel-Affäre“) als die Geschichte einer Wandlung, einer Wiedergeburt: „Durch den Wegfall von Status und Sicherheit kommt dieser Mann zu sich selbst, wird liebesfähig“, bringt es sein Darsteller Florian Stetter auf den Punkt. Davon profitiert neben ihm und seiner Ehefrau vor allem auch seine wohlbehütete Tochter, die er – ohne seine permanenten Interventionen – nun endlich erwachsen werden lassen kann.

„‘Westdeutsche Pharmafirmen testeten Medikamente an ostdeutschen Bürgern‘ – so lautete die Headline einer Tageszeitung, die ich im Jahre 2013 las. Da ich selbst ostdeutscher Herkunft bin, konnte ich diese Schlagzeile und den dazugehörigen Artikel kaum glauben. Auch mein familiäres Umfeld, Freunde und Bekannte aus der ehemaligen DDR und BRD, teilten meine Verwunderung. Niemand von ihnen hatte von diesen Tests gehört. Und so begann ich selbst zu diesem Thema zu recherchieren. Ich nahm Kontakt zu verschiedenen Bundesministerien, dem     Stasiarchiv, dem Bundesarchiv, Medizinhistorikern und Experten auf. Mit einem Team bestehend aus Journalisten, Fachberatern und Rechercheuren trugen wir über 600 Originalakten, Stasidokumente, Patientenakten, Studienbelege, Aufklärungsbogen, Verträge, historische Gesetzestexte und vieles mehr als Primärquellen zusammen.“ (Franziska An der Gassen, Produzentin)

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Marie Glaser (Felicitas Woll) bevorzugt im Gegensatz zu ihrem bockigen Ehemann eine eher pragmatische Sicht auf die Dinge. Ihre an MS erkrankte Tochter hat keine andere Wahl. Dass es sich bei der Medikamentenerprobung um eine Doppelblind-Studie handelt, darüber wurde sie von Dr. Sigurd (Corinna Harfouch) nicht aufgeklärt.

Doppelblindstudien: Die Heilung von Glasers Tochter wird zum Glücksspiel
Einen verzweifelt nach der Wahrheit suchenden Einzelkämpfer – diesen beliebten Topos in den Mittelpunkt dieses zeitgeschichtlichen Dramas zu stellen, ist dramaturgisch eine gute Wahl, eignet sich doch dieses narrative Muster bestens, um historische Hintergrund-Informationen spannend und ohne anstrengende Erklär-Dialoge für den Zuschauer in die Geschichte einzubinden. So fordert Glaser beispielsweise eine von ihm eingeschüchterte Krankenschwester (Nina Gummich) dazu auf: „Erzählen Sie mir doch mal etwas über die Systemtreue von Dr. Sigurd?“ Dabei erfährt er einiges über die regelmäßigen Besuche des westdeutschen Pharmakuriers Diller (Johannes Allmeyer). Ausgerechnet diesen kleinen Angestellten mit Ego-Problemen, der im Auto ständig Cassetten mit Selbstbewusstseins-Trainings hört, nimmt sich der Stasi-Wadenbeißer als nächstes vor. Der plaudert, um seine Haut zu retten, munter drauflos und lässt sich auch über die sogenannten Doppelblindstudien aus, die die Heilung von Glasers Tochter zur Glückssache machen. Würde sie nämlich bei der Studie zur Kontrollgruppe gehören, dann würde man ihr nur Placebos verabreichen.

Die abgehalfterte DDR, die autoritäre Arroganz, der Zynismus der Staatsmacht
Diese Informationen sind wichtig für den Fortgang der Handlung und sie ergänzen im Detail das, was der besser als die Hauptfigur informierte Zuschauer bereits weiß: So verweisen Szenen mit den Zynikern der DDR-Macht, einem Staatssekretär (Jörg Schüttauf) und dem Devisen-Schacherer Markow (Sebastian Hülk), sowie den Vertretern eines mittelständischen Nürnberger Pharmaunternehmens, das später von einem Schweizer Konzern mit Hilfe von Strippenzieher Markow geschluckt wird, auf die für beide Seiten lukrativen Medikamenten-Versuche. Nur mit der letzten Studie war man nicht zufrieden: Von 30 Probanden sind vier tot. Glaser setzt aber nicht nur die Kleinen unter Druck, auch die Ärztin seiner Tochter, die ihm deutlich zu verstehen gibt, weshalb der Deal mit dem Westen für die DDR-Medizin so existenziell ist, versucht er zu erpressen. Das Eindringen in das Grundstück des Staatssekretärs auf der Zielgeraden des Films ist indes eher Kintopp, psychologisch ist das Ganze weniger motiviert: Diese Szene hebt noch einmal die wirtschaftliche Bedeutung dieser Tests für die abgehalfterte DDR hervor, sie stellt aber zugleich auch die autoritäre Arroganz und den Zynismus der Staatsmacht, verkörpert in Schüttaufs Staatssekretär, hemdsärmelig zur Schau.

Kranke GeschäfteFoto: ZDF / Dusan Martincek
Auf dem Weg, ein anderer Mensch zu werden. „Durch den Wegfall von Status und Sicherheit kommt der Mann zu sich selbst, wird liebesfähig.“ Florian Stetter und Lena Urzendowsky

Soundtrack: Depeche Mode („A Question of Time“ / „Personal Jesus“ / „Fly On The Windscreen“ / „Everything Counts“)

Rebellion gegen die Staats-Familie: „Jetzt haben wir nur noch uns“
Die Narration ist dicht, nicht sonderlich kompliziert, dafür hat der Autor sie mit einer unterschwelligen metaphorischen Ebene ausstaffiert. Bei der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose rebelliert der Körper gegen sich selbst. Auch der Held rebelliert – am Ende sogar gegen seine Überzeugung, die er in seinem Staat repräsentiert sah. „Jetzt haben wir nur noch uns“, sagt er zu seiner Frau, der der Staat schon länger als ihrem Mann abhandengekommen ist. Das Ministerium war für den Oberleutnant der Stasi lange seine Familie. Mit Glasers Genossen auf Du und Du, dem Nachbarn und Kollegen (Alexander Beyer) und seinem Vorgesetzten (Stephan Grossmann), gibt es anfangs weniger Probleme als mit seiner pubertierenden Tochter, die von ihrer Zimmernachbarin Niki (Amber Bongard) auf punkige Gedanken gebracht wird. Am Ende aber ist man nur noch zu dritt. Klar und wenig komplex ist auch die Dramaturgie. Auf den finalen Lerneffekt der Hauptfigur können erfahrene Zuschauer früh wetten. Dass man den Gang des gebeutelten Helden vom blinden Hardliner zum einsichtigen Zeitgenossen dennoch gerne mitmacht, liegt an Florian Stetter, dem die Antipathie-Sympathie-Gratwanderung seiner Figur überzeugend gelingt, lässt sich wohl aber auch mit dem Harmoniestreben des Zuschauers erklären. Krankheit und Knast sind schlimm genug, da tut ein bisschen Familienglück gut. Noch dazu, wenn man sich vor Augen hält, dass „Kranke Geschäfte“ der letzte Film von Urs Egger ist, und wenn man sich bewusst macht, was ihm der deutsch(sprachig)e Fernsehfilm der letzten 25 Jahre alles zu verdanken hat: Filme wie „Opernball“ (1998), „Tod eines Keilers“ (2006), „An der Grenze“ (2006), „Der Fall Bruckner“ (2014), „Brief an mein Leben“ (2015) und „Das Wunder von Wörgl“ (2018). Die Stärke seines letzten Films ist, dass er seine Arbeit ganz in den Dienst von Buch & Geschichte gestellt hat.

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Fernsehfilm

Arte, ZDF

Mit Florian Stetter, Felicitas Woll, Lena Urzendowsky, Corinna Harfouch, Jörg Schüttauf, Johannes Allmayer, Alexander Beyer, Stephan Grossmann, Matthias Matschke, Nina Gummich, Sebastian Hülk, Udo Samel

Kamera: Lukas Strebel

Szenenbild: Adéla Háková

Kostüm: Stána Sloserová

Schnitt: Benjamin Hembus

Musik: Ina Siefert

Redaktion: Günther van Endert (ZDF), Olaf Grunert (Arte)

Produktionsfirma: Rat Pack Filmproduktion, An der Gassen Film

Produktion: Franziska An der Gassen, Christian Becker

Drehbuch: Johannes Betz

Regie: Urs Egger

Quote: ZDF: 3,78 Mio. Zuschauer (12,2% MA)

EA: 25.09.2020 20:15 Uhr | Arte

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