Bei einer Zuschauerabstimmung im ZDF wurde Konrad Adenauer zum „Größten Deutschen“ gewählt. Der erste abendfüllende Film über sein Leben entstand aber in der ARD – jetzt, 45 Jahre nach seinem Tod: „Konrad Adenauer – Stunden der Entscheidung“. Dieses historische Desinteresse an dem ersten Kanzler der Bundesrepublik bleibt ein Rätsel. Der Zeitgeist überholte offensichtlich die christlich-katholischen Werte und die bürgerlichen Ideale des 19. Jahrhunderts, die Adenauer verkörperte: Disziplin, Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit. Mit seinem Abtreten von der Bühne der Politik zog eine neue Zeit auf. Die Demokratisierungswelle erfasste die Republik: die neue Entspannungspolitik war attraktiver für die nachfolgenden Generationen als die altväterliche Politik der Stärke, und Konsumkritik war sexier als hemdsärmeliges „Wir sind wieder wer“ oder Wirtschaftswunder-Fetischismus. „Der Alte“ war einer von gestern, wurde vergessen – bis Krisenzeiten die Erinnerung an ihn wachriefen.
Foto: SWR / Martin Christ
Eine Dialogfolge im Adenauer-Film:
Augstein: „Glauben Sie, dass man die Deutschen zu einem friedlichen Volk machen kann – nach all der Verrohung durch die Nazis?“
Adenauer: „Darin würde ich meine eigentliche Aufgabe sehen – die Deutschen zum Frieden erziehen.“
Autor Werner Biermann und Regisseur Stefan Schneider zeigen Höhe-, Tief- und Wendepunkte in Konrad Adenauers politischer Karriere. Neben dem instinktsicheren Machtpolitiker werfen sie auch dezente Schlaglichter auf den Privatmenschen. Etwa 60 Prozent des Films sind Spielszenen. Diese, eindrucksvoll getragen vom Spiel Joachim Bißmeiers, sind das Herzstück dieses Doku-Dramas, das Emotionen nicht scheut und dem die Gratwanderung zwischen dokumentarischen und fiktionalen Qualitäten, zwischen Faktentreue und Interpretation, ausnehmend gut gelingt. Mehr Informationen, mehr Zwischentöne, mehr Brüche – das ist der Vorteil dieses Genres gegenüber einer rein fiktionalen Bearbeitung jener 34 Jahre aus dem Leben Konrad Adenauers, die auch 34 Jahre (bundes)deutsche Geschichte spiegeln. Die Interviews mit den Kindern des Politikers doppeln mal das szenisch Gezeigte, mal kommentieren sie es und die etwas sparsamen Dokumentarbilder, in denen sich „der Alte“ privat gibt, machen deutlich, dass hier ein greiser Mann das Sagen in Deutschland hatte (der Italien-Fan erklärt die Vorteile des Boccia-Spiels), einer, dem Mutterwitz und rheinische Gelassenheit – neben Schlauheit und Gerissenheit – mit in die Wiege gelegt wurden. Nach dem kurzen Intro, in dem der Kanzler am 13. August 1961, mit dem Beginn des Berliner Mauerbaus in eine Art Schockstarre zu fallen scheint, springt die Handlung zurück ins Jahr 1933. Oberbürgermeister Adenauer wird von den Nazis aus dem Kölner Rathaus gejagt, sieht sich der Überwachung durch die Gestapo ausgesetzt und wird 1944 mehrfach verhaftet.
Foto: SWR / Martin Christ
Autor Werner Biermann über die Drehbucharbeit des Doku-Dramas:
„Man muss in diesem Material eine Geschichte suchen, eine Story mit Anfang, Höhepunkt, Ende etc. Und die folgt dann nicht nur den historischen Fakten, sondern sehr subtilen narrativen und dramaturgischen Gesetzen.“
„Konrad Adenauer – Stunden der Entscheidung“, angelegt als Charakterstudie einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte, folgt der Chronologie der politischen Ereignisse. Der Film zeigt einen raffinierten und oft rücksichtslosen Strippenzieher, der es schafft, über Nacht zum Kanzler der jungen Republik gewählt zu werden – mit 73 Jahren. Unbedingt will er die deutsche Zukunft mitgestalten. Adenauer wird weniger aus der Perspektive der Öffentlichkeit betrachtet, allein in der Person Rudolf Augsteins („Der Alte muss weg“) spiegelt sich die Anfang der 1960er Jahre größer werdende Front seiner Kritiker. „Wir wollten und mussten dem ‚Denkmal’ und dem ‚Feindbild’ ein neues Bild entgegensetzen“, betont Schneider. „Wir wollen ihn weder verherrlichen, noch verurteilen. Die Zuschauer sollen sich selbst ein Bild machen.“ Eine Revision des Adenauer-Bildes konnte Biermann, Jahrgang 1945, durch das Filmprojekt bei sich feststellen. Nicht nur Adenauer („Ich weiß gar nicht mehr, ob ich meiner Meinung bin“) und Augstein („Er war der größte Politiker, dem ich je begegnet bin“) waren in der Lage, „Gewissheiten“ zu revidieren! Auch der Autor: „Ich sehe Adenauer immer noch kritisch, aber jetzt auf andere Weise. Und ich bin von Adenauer auch beeindruckt. Wie konnte es beispielsweise kommen, dass ausgerechnet dieser Mann, der aus dem Wilhelminismus stammt, den modernsten Staat entwickelt und geprägt hat, den es je in Deutschland gab!“