In jüngerer Zeit liegt es teils am starren Blick aufs ausländische Serienschaffen, aber auch vordem schon gab es tote Winkel bei der Wahrnehmung der einheimischen Programme. Sträflich wenig Beachtung findet beispielsweise seit je die Reihe „Kommissarin Lucas“. Seit 2003 ist sie kontinuierlich im Programm des ZDF, und wenn die Geschichten statt unregelmäßig übers Jahr verteilt in 45-minütigen Einheiten verabfolgt würden, dann wäre gegeben, was die neuerdings heftig am Fernsehen interessierten Feuilletons gebetsmühlenartig fordern: eine hintergründige Erzählung mit Fortsetzungscharakter (Schlagwort: horizontal), deren erzählte Zeit sich in diesem Fall tatsächlich in epischem Ausmaß über stolze zwölf Jahre erstreckt. Wobei andererseits ja angeblich der Trend zum geballten Konsum geht. Da kann man gleich in 90-Minuten-Einheiten erzählen – nur eine andere Form des Binge-Watchings.
Wer die Reihe von Anbeginn regelmäßig verfolgt hat, ist Zeuge eines beruflichen und privaten Lebens voller Wechselfälle geworden. Kommissarin Lucas, stets preiswürdig gespielt von Ulrike Kriener, ist in Regensburg tätig, weil dort einst ihr im Koma versunkener Ehemann in einer Fachklinik behandelt worden war. Die ersten Folgen waren von der Sorge um den Lebenspartner geprägt, es gab den Moment des Glücks, als er erwachte, dann die Tragödie, als er kurz darauf überraschend verstarb. Von da ab haben sich die Dinge stets weiterentwickelt, leidvolle Erfahrungen im Privaten und der nicht immer leichte Beruf haben die spröde Ellen Lucas nicht zugänglicher werden lassen. Sie ist eine schwierige Vorgesetzte, ihr Tonfall barsch; sie hat schon viele Kollegen vergrätzt, zuletzt die ehrgeizige Kriminal-Kommissarin Alex Eggert (Anna Brüggemann), die nun nicht mehr zur Abteilung gehört.
In der aktuellen Folge „Der Wald“ meldet sich mit der Polizeihauptwachtmeisteranwärterin Judith Marlow (Jördis Richter) wieder einmal eine neue, noch wenig erfahrene Mitarbeiterin zum Dienst. Kommissariatsleiter Boris Noethen (Michael Roll) nimmt Lucas beiseite und bittet mit verhaltener Stimme: „Gib ihr ‘ne Chance“. Marlow stößt in einem Moment zum Team, als eben die Ermittlungen in einem uneindeutigen Todesfall an Fahrt gewinnen. Eine 16-Jährige ist von einer Brücke gestürzt oder aber gestoßen worden. Die familiären Hintergründe des Mädchens sind kompliziert. Der Vater, Peter Schwertz (Alexander Brendemühl), träumt von einem Leben in der freien Natur, hat sich ein Grundstück in Kanada gekauft und ist im Begriff auszuwandern. Zeitweilig lebte die vierköpfige Familie in einer Art Landkommune, bis Ehefrau Monika (Suzan Anbeh) eine Affäre mit deren Oberhaupt Heiko Wolf (Wolfgang Maria Bauer) begann. Als Tochter Jessica den charismatischen Häuptling der sexuellen Belästigung bezichtigte, zog die Familie umgehend aus. Die Mutter kehrte zurück in ein bürgerliches Leben, der Vater nahm seine Töchter mit in den Wald, wo er übergangsweise in einem ehemaligen Steinbruch sein Zelt aufschlug und eine Art Waldläuferleben führt.
Drehbuchautor und Regisseur Ralf Huettner führt seine Ermittler in plausiblen Schritten durch das Geschehen, lässt somit das Genre des Polizeikrimis nie außer Acht. Gekonnt eingewoben sind die beiläufigen Themen, hier insbesondere das mehrfach angespielte Sujet des psychologischen Missbrauchs und Ellen Lucas‘ Erschöpfung und Verbitterung, gelungen pointiert in einer Szene, in der sie bei der Verfolgung eines Unbekannten im Wald einen Schuh verliert. Sie flucht, setzt sich auf einen umgestürzten Baum, streckt sich, findet zur Ruhe. Sie atmet durch, schmunzelt. Ein so seltener Anblick, dass es den Betrachter völlig überrascht.
Wie meist in dieser Reihe sind die Bilder in verhaltenen Farben gehalten, die Lichtführung ist bemerkenswert unbarmherzig. Uneitel setzen sich Ulrike Kriener und Michael Roll, aber auch Gaststars wie Suzan Anbeh dieser Inszenierung aus, zeigen ihre Figuren in angegriffenem Zustand, ausgelaugt, demoralisiert. Bei all der Düsternis gelingt es auch in dieser Episode, das Geschehen mit dezenten Humoreinschüben zu bereichern. Ellen Lucas kämpft mit dem ihr unvertrauten Dienstwagen und den Unbilden der Hausrenovierung. Das wirkt keineswegs aufgesetzt, sondern wird aus dem Alltag heraus entwickelt, ereignet sich natürlich, woran die Stammschauspieler Anke Engelke und Tilo Prückner nicht unerheblichen Anteil haben. Nicht nur diese Episode, die gesamte Reihe ist Fernsehkrimikunst auf hohem Niveau, die sich mit den führenden britischen Produktionen dieses Genres ohne weiteres messen kann.