Ein Kind schleicht sich in das Herz des politischen Lebemanns Kästner
Die wilden Zwanziger neigen sich dem Ende zu. Erich Kästner (Florian David Fitz), der scharfsinnige Publizist und spitzzüngige Gebrauchslyriker, schreibt sein erstes Kinderbuch. „Emil und die Detektive“ wird geliebt von den jungen Lesern. Kästner selbst kann mit Kindern allerdings nicht viel anfangen; es sei denn, witzelt er, es sind wie jener Emil „Söhne aus Papier“, denn „die verdienen Geld sobald sie auf der Welt sind“. Ebenso scheut er im Gegensatz zu seinem besten Freund, dem politischen Zeichner Erich Ohser (Hans Löw), auch feste Bindungen zu Frauen; die verheirateten sind ihm die liebsten. Und so ist ihm der kleine Hans Löhr (Nico Ramon Kleemann), sein größter Fan, der eines Tages vor seiner Tür steht, anfangs gar nicht so geheuer; und dann sieht er da im Hintergrund auch noch Lotte Löhr (Katharina Lorenz), eine geschiedene Frau… Doch seine Bedenken sind bald ausgeräumt und Hans wird ihm eine große Hilfe sein bei seinen nächsten Versuchen, über etwas zu schreiben, von dem er eigentlich keine Ahnung hat: Kinder. Der Knirps wird eine Art Lektor für Kästner. Zuvor aber darf kräftig gefeiert werden: Denn die Verfilmung von „Emil und die Detektive“, in dem Hans – stolz wie Bolle – die Rolle des kleinen Dienstag ergattert hat, ist ein Riesenerfolg. In der Folgezeit gibt es dann immer weniger Gründe zu feiern. Hitler kommt an die Macht, und kritische Intellektuelle werden als „undeutsch“ diffamiert. Doch selbst sein Berufsverbot lässt den „Zersetzungsliteraten“, wie er von den Nazis bezeichnet wird, nicht ans Exil denken. Seinem kleinen Freund aber erzählt er aus gutem Grund etwas anderes: Er will ihn schützen.
Optimismus und Hoffnung als Überlebensstrategien in dunklen Tagen?
Es ist ein tragisches Paradox, dass der verbotene Schriftsteller ausgerechnet den Menschen, der so sehr an ihn glaubt, verstoßen und damit dessen Kinderseele schwer verletzen muss. Für den Zuschauer währt dieser Schmerz allerdings nicht lange. Denn denselben Optimismus, zu dem sich der reale Erich Kästner während des „Dritten Reichs“ immer wieder zwingen musste, legt auch das ganz im Stile Kästners erzählte und ebenso liebevoll inszenierte Biopic „Kästner und der kleine Dienstag“ an den Tag. Und so darf die erwachsene Hauptfigur wenige Filmminuten später dem nun gar nicht mehr so kleinen Hans die Gründe aufzählen, weshalb er Deutschland nicht verlassen hat. „20 Prozent Trotz, 20 Prozent Feigheit, 20 Prozent Faulheit, 10 Prozent Dummheit, 5 Prozent Heldenmut, 100 Prozent, weil es meiner alten Mutter in Dresden das Herz brechen würde.“ Dieser Mann kennt auch dunkle Tage (und der Film blendet sie keinesfalls aus), aber er ist offensichtlich nicht kaputt gegangen an der deutschen Geschichte und dem Entschluss, trotz verhasster Diktatur in seiner Heimat zu bleiben.
„Ob eine Geschichte wirklich passiert ist oder nicht, ist egal, Hauptsache, sie ist wahr.“ (Erich Kästner im Film)
„Kästner sah die Leser seiner Essays als Kinder und die Leser seiner Kinderbücher als Erwachsene an.“ (Marcel Reich-Ranicki) = das spiegelt sich auch im Film wider, in den Interaktionen der 1. Stunde: Die Erwachsenen kommunizieren vielfach ironisch & gewitzt, während Kästner mit Hans sehr vernünftig redet.
„Der junge Kästner war das, was man heute einen Popliteraten nennt. Er war ein Lebemann, war den schönen Frauen, dem Alkohol und allen Genüssen zugetan. Er war auch gern ein Star und hat das genossen. Er war aber auch ein Moralist, wie er sich selbst bezeichnet hat, er wollte die Menschen durch den Humor bekehren.“ (Florian David Fitz, aus einem Interview in TV-Spielfilm, Heft 25/2017)
„Ich habe zwölf Jahre lang ein ironisches Gesicht gemacht“ (Kästner)
Sein Wesen, dieses nonchalante, verspielte Savoir-vivre, dürfte ihm beim Aushalten der politischen Verhältnisse geholfen haben. Die deutsch-österreichische Koproduktion legt diesen Schluss nahe, insbesondere auch durch die Art, wie Florian David Fitz, der dem Autor nicht gerade aus dem Gesicht geschnitten ist, Kästner verkörpert: als Charmeur und Kritikaster („Wenn alle Klugen gehen, dann gehört den Dummen das Land“) zu Beginn; und später hat er selbst noch für die Gestapo oder den Wehrmachtsarzt ein süffisantes Schmunzeln übrig. Das entspricht wunderbar der ins Medium Film übersetzten Selbsteinschätzung des Schriftstellers: „Ich habe zwölf Jahre lang ein ironisches Gesicht gemacht.“ Ironie also bleibt die Über-lebensstrategie des erwachsenen Autors. Das war nicht immer so. Nachdem der von der Schulbank Eingezogene mit den Gräueln des Krieges konfrontiert wurde, formulierte der Heimgekehrte seinen brennenden Pazifismus in seinen Gedichten wütend und radikal.
„Ich glaube, Kästner hat genau gewusst, dass der dieser Satz aus ‚Das fliegende Klassenzimmer’ auf ihn zutrifft. Genau das begreift doch jeder gute Schriftsteller, oder? Dass es diese absoluten Menschen eigentlich nur in der Phantasie gibt, die immer aufstehen, die für ihre Ideale ins Grab gehen. Die Realität ist dann doch sehr viel bescheidener.“ (Florian David Fitz über Kästners Widerspruch)
Der „große Dienstag“ wird zum alter Ego des jungen, radikalen Kästner
Hat die Drehbuchautorin und zweifache Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön („Der letzte schöne Tag“) mit dem „kleinen Dienstag“ eine historisch verbriefte, anrührende Freundschaft in den Mittelpunkt der ersten Stunde dieses Biopics gestellt, so modelliert sie den „großen Dienstag“ zum alter Ego Kästners, welches dem Autor dessen größten Widerspruch seines Lebens spiegelt. Jetzt ist er der junge Mann, der das Recht der Jugend radikal für sich in Anspruch nimmt. Der fast erwachsene Hans (Jascha Baum) sagt, was er denkt. Ähnlich wie der junge Kästner nach seiner Zeit beim Militär. Rezitierend erinnert Hans den Schriftsteller auch an Sätze aus seinen Werken und verweist auf dessen Haltungen und Ideale, als dieser noch ungestraft Gesellschaftskritiker sein durfte und die Moral auf seiner Seite hatte. Reicht es denn aus, wenn man – wie ihm Kästner vor Jahren eingebläut hat – seinen eigenen Kopf benutzt? Sollte ein Moralist nicht andere Ansprüche an gelebte Moralität haben? „Kein Held, aber auch kein Mitläufer, sondern ein notorisch Hoffender“, so sieht Dorothee Schön Kästner in jenen Jahren. Es entspricht dem unaufgeregten Ton der Geschichte, dass die Autorin den Widerspruch zwar herausarbeitet, aber nicht bewertet und sich nicht als übergeordnete moralische Instanz aufspielt. „An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur die Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.“ Diese hehren Worte stammen aus „Das fliegende Klassenzimmer“ und dieser Satz wird auch in der ARD-Produktion zitiert. Als Kästners Bücher in Berlin verbrannt wurden, stand der Autor geschockt und stumm daneben, ein beglaubigter Moment, der in den Film Eingang findet: Es ist eine Szene, die dem Zuschauer das Dilemma des verbotenen Autors sinnlich und urteilsfrei vor Augen führt.
„Ich sehe Kästner überhaupt nicht ähnlich und bin auch nicht aus Sachsen. Es geht also weniger um die dicken Augenbrauen, sondern eher darum, einen Zipfel von seiner Essenz zu erwischen.“ (Florian David Fitz)
Schön und Murnberger tappen nicht in die Fallen des Biopic-Genres
Die dramaturgische Verdichtung ist eine der großen Qualitäten dieses Films, der die Problemzonen des Genres geschickt umschifft. Durch die Eingrenzung der erzählten Zeit auf etwa 15 Jahre, die Reduktion des Personals (auf seine Privatsekretärin und Vertraute Elfriede Mechnig wurde klugerweise verzichtet), die Konzentration auf die ungleichen Freunde und die besagten Projektionen, durch die auch die Geisteshaltung des jungen Kästners indirekt ins Spiel kommt, und durch die wiederkehrenden Schauplätze, die der Geschichte Kontinuität und dem Zuschauer eine gute Orientierung geben (man fühlt sich schnell heimisch), entwickelt der Film eine für ein Biopic ungewöhnliche Homogenität. Regisseur Wolfgang Murnberger kennt die Fallstricke des Genres. Schon mit „Luis Trenker – Der schmale Grat der Wahrheit“ gelang ihm ein filmisch reizvolles Biopic, unterhaltsam und doch mit Haltung. In „Kästner und der kleine Dienstag“ ist die Perspektive eine intimere, die Charaktere sind griffiger, sympathischer und der Film schließlich ist stiller, sensibler und spricht den Zuschauer auf kluge Weise an.
Ein historischer Film im Fluss, ohne zu viel abgegriffene Nazi-Ikonografie
Es wird erzählt ohne Erzähler, der Film fließt angenehm durch die Zeit. Kein Abhaken, keine Hetze. Nicht die Chronologie, die Psychologie der Ereignisse bestimmt den Erzählrhythmus. Dabei kann es durchaus mal Schlag auf Schlag gehen: Kästners Besuch bei den Lohrs, Hans’ Vorsprechen für „Emil und die Detektive“ (treffende Idee: mit einem politischen Kästner-Gedicht), die Dreharbeiten, die Premiere im Kino, die anschließende Feier in Kästners Stammkneipe. Geht es aber um die Beziehungen der Menschen, nehmen sich Schön und Murnberger Zeit, beispielsweise auch für die Freundschaft zwischen Hans und dem Halbjuden Wolfi. Die wiederkehrenden Gespräche am See zwischen den beiden gehören zu den eindringlichsten Szenen des Films. Erklärdialoge, die an den Zuschauer gerichtet sind, gibt es hingegen kaum (allenfalls wenn uns die jüdische Verlegerin mitteilt, welche Prominenten alle schon das Land verlassen haben). Die stimmige Darstellung des (komprimierten) Alltags scheint oberstes dramaturgisches Gebot für „Kästner und der kleine Dienstag“ gewesen zu sein. Kästner verpflichtet! Dazu gehört auch, dass sich die Geschichte nicht im Nationalsozialismus verzettelt und auf die abgegriffene Nazi-Ikonografie weitgehend verzichtet. Weder Witzfiguren noch Karikaturen des Bösen marschieren hier auf; ja selbst der vom neuen Schulfach „Rassenkunde“ berauschte Lehrkörper mischt Nazi-Ideologie mit der Pauker-Rhetorik, wie sie Kästner in „Das fliegenden Klassenzimmer“ den Leser erheiternd zum Besten gab. Überhaupt baut Schön nicht nur Momente und Motive aus Kästners Werken, sondern auch einige seiner Verse und Sinnsprüche („Es gibt nichts Gutes, außer man tut“) – ohne jedes Ausrufezeichen – in den Erzählfluss ein. Und den Rest übernimmt der zunächst flapsige Grundton der Dialoge, der sich später den dunklen Zeiten anpasst, in seiner Form aber nach wie vor ausgesprochen Kästner-like (melancholisch) pointiert bleibt: „Irgendwann taucht die Vernunft wider auf und schnappt nach Luft.“ (Text-Stand: 30.11.2017)