Zwei ewige Hamburger „Jungs“ und die Jagd der einsamen Herzen
Der eine sitzt im Rollstuhl, der andere muss sich mit seiner bettlägerigen Mutter herumschlagen. Jürgen Dose (Heinz Strunk) und Bernd Würmer (Charly Hübner) haben außer ihrer jahrelangen Freundschaft nicht viel vom Leben. Das soll endlich anders werden, denn beide sehnen sich nach einer Frau an ihrer Seite – wenn’s sein muss, auch nur für eine Nacht. „Im Osten sind noch Herzen frei“, das Konzept des Beziehungsanbahnungs-Ein-Mann-Unternehmens Europ-Love überzeugt die Hamburger „Jungs“ – und so lassen sie sich und vier weitere „arme Willis“ von Herrn Schindelmeister (Peter Heinrich Brix) und seiner liebreizend verhuschten Dolmetscherin Anja (Friederike Kempter) ins polnische Stettin karren. Dort wartet unter anderem die attraktive Dominika (Adrianna Janowska-Moniuszko) auf „ihren“ Bernd. Da der sich aber beim Date verspätet, springt mal eben der liebe Jürgen ein. Das aber stellt die eherne Männerfreundschaft der beiden gehörig auf die Probe.
Filmheld Jürgen Dose erblickte 1994 auf Heinz Strunks zweitem Soloalbum „Der Mettwurstpapst“ das Licht der Comedy-Welt. Das schüchterne und verschrobene Alter Ego Strunks führte ein unauffälliges Leben in der Wohnung seiner ans Bett gefesselten Mutter und berichtete eloquent von seinem spektakulär ereignislosen Alltag im Ruhrgebiet. Es folgten ab 2000 die nach ihm benannte Show auf Radio Fritz sowie 2005 das Hörspiel-Album „Trittschall im Kriechkeller“. Die insgesamt 28 Erzählungen perfektionierten Doses Image als kleiner Mann und schräger Vogel, der aus Langeweile auch mal bewusst die Milch überkochen lässt.
„Jürgen und Bernd eint eine Art optimistischer Fatalismus, eine Geisteshaltung, die man eigentlich aus der englischen Kultur kennt. Trotzdem ist die Erzählweise zutiefst deutsch und stellt eine gesellschaftliche Schicht in den Mittelpunkt, die ansonsten nur im Sozialdrama oder im Kriminalfilm vorkommt.“ (Lars Jessen)
Ein armseliges Dasein lakonisch, liebevoll & desillusionierend dargestellt
Betonfrisur, dicke Wampe, die Verdrießlichkeit in jeder Stirnfalte und dann auch noch die gern zitierte „Körpersprache“ – die beiden tragikomischen Antihelden des ARD-Fernsehfilms „Jürgen – Heute wird gelebt“ sehen aus wie zwei ewige Verlierer. Hoffnung auf bessere Zeiten erwecken diese Dauer-Singles von der traurigen Gestalt beim Zuschauer eher weniger. Grau die Grundstimmung der Freunde, grau auch die Regenfahrt gen Osten, die sich zu einem Trip des Grau-ens auswächst: Dosenbier, anzügliche Witze, Männer-Gezicke – und die beiden „Helden“ spielen mit Malaria- und Syphilis-Trümpfen Erreger-Quartett. „Doch Luftschlösser brauchen keine Baugenehmigung“ – und so schließt Jürgen seine Augen und träumt sich in eine Sexy-Glamourwelt mit Girls und Champagner, während ihm in der Realität die Apfelschorle über die Hose läuft. Ein armseliges, trauriges Dasein wird hier lakonisch, liebevoll, aber gleichsam desillusionierend von Hauptdarsteller und Autor Heinz Strunk entworfen. Auch Regisseur Lars Jessen hält Distanz zum Geschehen. Mitleid wäre das Letzte, was diese beiden haben wollten. Strunk & Jessen erheben sich nicht über ihre Prekariats-Musterschüler, deren Tristesse ein Stück weit selbstverschuldet ist; sie setzen weder auf Empathie, noch auf Betroffenheit (womit sie sich ja ebenso über die zwei erheben würden).
Der Strunksche Humor verzichtet auf entlastende, erlösende Pointen
Für den Zuschauer bedeutet das zunächst: Er muss sich einrichten in einem Fremdschäm-Mikrokosmos, aus dem es kein Entkommen durch entlastende Witzigkeit gibt. Der Humor bleibt weitgehend der Humortonlage Strunks verpflichtet – und diese verzichtet auf erlösende, den Frust wegwitzelnde Pointen, orientiert sich vielmehr ganz an den Charakteren. Und so kann man bei Jürgens staubtrockenen Aufheiterungsversuchen, in denen sich allerdings der skurrile Eigensinn dieser Figur spiegelt, nicht ablachen, sondern wird mehr und mehr gefangengenommen von dessen dezent befremdlichen Neurosen. Zum Goutieren von „Jürgen – Heute wird gelebt“ darf man nicht fremdeln mit tiefer gelegtem Witz. Auch wenn dieser nicht mit der Erzählhaltung gleichzusetzen ist, so bestimmt jedoch diese Tonlage über weite Strecken die Handlung – insbesondere wenn David Bredins Macho-Vollpfosten und Rolli-Schwachmat Bernd sich als Seelenverwandte in Sachen dumme Sprüche und Sauferei gegen Jürgen verbrüdern. Und auch der Reiseveranstalter ist ein Kotzbrocken und Frauenfeind erster Güte, der „für die, die nichts abgreifen“, noch ein paar Nutten ins Einsame-Herzen-Gefecht schickt. Sympathisch ist anders – und zu allem Übel siezen sich plötzlich Jürgen und Bernd auch noch und kündigen sich die Freundschaft. Aber natürlich sieht man sich wieder.
Soundtrack: The Flaming Lips („The Spiderbite Song“ / „What Is The Light“ / „Waitin‘ For A Superman“ / „A Spoonful Weights A Ton“), Inner Circle („Sweat“), Kayah & Goran Bregovic („Prawy Do Lewego“)
Statt auf echte Sympathieträger setzt der Film auf lakonischen Realismus
Filme über Verliererduos leben von jeher von einer mehr oder weniger tragisch unterfütterten melancholischen Grundstimmung. Man sollte Fernsehfilme normalerweise nicht mit Kino-Legenden vergleichen – „Asphalt Cowboy“ ist allerdings ganz hilfreich, um Strunks dramaturgischen und Jessens filmischen Zugriff auf die Geschichte (noch einmal) zu verdeutlichen. Zwar sind die Figuren das Maß aller Dinge in dieser WDR-Produktion, aber die Fallhöhe ist weitaus geringer, die Distanz zu den beiden Anti-Helden sehr viel größer (auch wenn Jon Voights naiver US-Cowboy-Frauenaufreißer auf den ersten Blick auch nicht zur Identifikationsfigur taugt) als bei dem New-Hollywood-Klassiker mit Dustin Hoffman, und auf der Klaviatur der großen Gefühle will hier erst recht keiner spielen. Das mag – wie der Verzicht auf echte Pointen – anfangs gewöhnungsbedürftig sein. Solche Charaktere aus den niederen Schichten, die zudem nicht die hellsten Flammen auf der Sonntagstorte sind, haben es schwerer im Wettbewerb um Sympathiepunkte bei der Fernsehfilme schauenden Mittelschicht, ausgenommen solche Figuren sind mit entwaffnendem Mutterwitz gesegnet (wie in der Komödie „Wir sind die Rosinskis“). Aber der erste Eindruck kehrt sich dann doch irgendwann um; unsere Helden sind ja nicht so schlimm wie einige der anderen Figuren. Und mit der Zeit versteht man Strunks Jürgen besser, empfindet für ihn eine gewisse Sympathie. Und Faulsocke Bernd wird immerhin von Charly Hübner verkörpert, einem unserer besten (Charakter-)Köpfe mit Bauch – und so sieht man irgendwann nicht mehr nur die verkorksten Helden mit ihrem überlebensstrategischen Witzigseinwollen, sondern nimmt vor allem diesen lakonischen, kunstlosen Realismus wahr, der konsequent die Nebenhandlungen nicht ausspielt und den man so nur selten sieht im meist perfekt gestylten Fernsehfilm der 2010er Jahre.