Eine bayerische Kleinstadt. Kommissarin Anja Amberger ist nach der Trennung von ihrem Mann im gemeinsamen Haus wohnen geblieben – zusammen mit ihren beiden Kindern, der pubertierenden Laura und dem dreijährigen Tom. Meist vergeblich versucht sie, dem Alltagschaos Herr zu werden. Besonders angespannt wird die Lage, als ein Junge, so alt wie ihr eigener Sohn, als vermisst gemeldet wird. Bei dessen Familie war sie erst unlängst bei einem nächtlichen Einsatz, weil eine Nachbarin die seltsamen Erziehungsmaßnahmen des Vaters für einen Dreijährigen für unangemessen hielt. Die Polizistin macht sich Vorwürfe, weil sie in jener Nacht den Körper des Jungen nicht ausreichend auf Verletzungen hin untersucht hat. Während sich die Anzeichen verdichten, dass der überstrenge Vater etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun haben könnte, spitzt sich bei Anja Amberger auch die private Situation zu. Sie fühlt sich von allen in die Enge getrieben: vom Noch-Ehemann, der eigenen Tochter, von ihrer Ärztin. Der aktuelle Fall ist für sie Auslöser dafür, sich ihren seelischen Problemen zu stellen und den so genannten „Kindheitsscheiß“ nicht länger in sich zu verschließen, sondern endlich den schweren Koffer der Vergangenheit zu öffnen.
„In aller Stille“ ist ein Film, der durch die kluge Dialektik des Tragischen besticht. Drehbuchautorin Ariela Bogenberger entfaltet eine unaufgeregte, an Projektionen reiche Geschichte über eine Frau, die eine tief sitzende Angst mit sich herumträgt. Doch nicht nur ihre Kindheit, ihr Elternhaus, erweist sich als Bürde, auch ihr Beruf ist kein kinderfreundliches Milieu, und ihr eigener psychischer Stress sowie der soziale Müll, den sie abends mit nach Hause bringt, sind nicht dazu angetan, entspannte, familiäre Stimmung zu verbreiten. Alle leiden vor sich hin, die einen stiller, die anderen lauter. Der Sohn hustet sich die Spannung von der Seele, die Tochter explodiert, die Mutter brüllt zurück und es rutscht ihr auch schon mal die Hand aus. Und die kaltherzige Großmutter hat garantiert einen unpassenden Satz parat.
Foto: BR / Erika Hauri
Leihen sich oftmals Psycho- und Familiendramen vom Krimi die Spannung aus, um so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden zu können, ist es bei diesem außergewöhnlichen Fernsehfilm von Rainer Kaufmann eher umgekehrt: „Hier leiht sich ein nicht allzu reichhaltiger Kriminalfall die Spannung von einer Psychogeschichte aus“, so Hauptdarstellerin Nina Kunzendorf. „Das Hauptzentrum liegt nicht bei der Krimigeschichte. Auch in meinem Spielbewusstsein habe ich vernachlässigt, dass meine Figur Kommissarin ist. Ich habe sie stärker als Privatperson mit all ihren Traumata und Überforderungen begriffen.“
Nina Kunzendorf, die sich in enge Kleidung zwängen musste als Zeichen für die Zwanghaftigkeit ihrer Figur, beweist einmal mehr, dass sie die große Blickkünstlerin unter den deutschen Schauspielern ihrer Generation ist. Das beredte Spiel ihrer Augen entwickelt mit feinen Nuancen einen hochkomplizierten Charakter. Aber auch ihr Körpereinsatz, die leise Gehemmtheit ihrer Bewegungen, die Distanz, mit der sie die anderen von sich fern hält, dann aber auch wieder die Nähe (ihres Kollegen), auf die sie es in der großartigen Küchenszene anlegt – das ist eine differenzierte Schauspielerarbeit, wie man sie selten sieht im Fernsehen.
Nina Kunzendorf über den „anderen Zugang“ zur Geschichte:
„Mir gefällt, dass man dieser Problemfamilie nicht eine gut situierte Familie bzw. Kriminalkommissarin gegenüberstellt, die perfekt ist und bei der alles bestens funktioniert, sondern dass hier eine spröde, vielleicht sogar unsympathische Identifikationsfigur entwickelt wird, die einem aber gerade durch das Unperfekte näher gebracht wird. So bekommt man einen anderen Zugang zur Geschichte. Kindesmisshandlung wird hier nicht als sozial verankert abgetan – so unter dem Motto: ‚Es sind doch eh nur die Asozialen, bei denen so etwas passiert.’“
Für diese Introvertiertheit am Rande permanenter Verstörung fanden Regisseur Rainer Kaufmann, Kameramann Klaus Eichhammer und Cutter Ueli Christen den idealen filmsprachlichen Resonanzboden. Der dokumentarisch anmutende Stil, die große Beweglichkeit in und zwischen den Bildern, sorgt dafür, dass Hauptfigur und Handlung nicht ins artifizielle Jammertal stürzen. „In aller Stille“ besitzt einen kunstvollen Realismus und trifft damit genau den für die Buch-Vorlage passenden Ton. Die Konstellation Bogenberger, Kaufmann, Kunzendorf, Sperl, die schon bei „Marias letzte Reise“ (mit der unvergessenen Monica Bleibtreu) Großes leistete, schreibt also weiterhin Fernsehgeschichte!