„Jud’ und Christ und Muselmann“, heißt es in „Nathan der Weise“, „alles ist ihm eins“. Lessings Drama ist 1779 entstanden, und der Dichter wollte die Charakterisierung seiner Titelfigur ausdrücklich positiv verstanden wissen: Für den jüdischen Kaufmann Nathan zählt der Mensch, nicht die Religion. In den Ausländerbehörden sieht man das knapp 250 Jahre später womöglich ganz ähnlich, allerdings eher unbeeinflusst von Lessings Toleranzgedanken: Wer hier vorstellig wird, weil er (oder sie) eine Aufenthaltserlaubnis möchte, wird als Fall betracht. Afghanistan, Syrien, Afrika: alles eins. In seinem vierten „Helen Dorn“-Film beschreibt Friedemann Fromm (Buch und Regie), wie kompliziert die Gemengelage jedoch wird, wenn die vernachlässigten geografischen oder religiösen Hintergründe plötzlich in den Vordergrund treten. Dass es ihm gelungen ist, dieses vermeintlich bürokratische Thema in ein Jugendkrimidrama mit Anleihen bei „Romeo und Julia“ zu betten, ist ziemlich respektabel. Kunststück Nummer zwei ist der multikulturelle Faktor: Wie „Nathan der Weise“, so ist auch Fromms Geschichte ein Plädoyer für Toleranz, denn selbstredend geht es um Klischees, Vorurteile und Ressentiments. Das trägt der Film jedoch nie vor sich her, zumal nahezu sämtliche Figuren weder nur gut noch nur böse sind.
Zunächst deutet allerdings nichts daraufhin, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird, denn der fesselnde Auftakt mündet in eine Tragödie, die von der Polizei fälschlicherweise als Amoklauf an einer Schule interpretiert wird: Ein junger Mann flieht auf dem Motorrad vor zwielichtigen Typen, die ihm offenkundig nichts Gutes wollen, wie auch sein blutdurchtränktes T-Shirt offenbart. Er erreicht seine frühere Schule, schießt in Panik auf eine Lehrerin und rettet sich in den Heizungskeller. Seine Freundin Abedi (Carla Njine) bittet ihren Vater um Hilfe, aber Rocco (Marco Valero) erliegt seinen Verletzungen; sein jüngerer Bruder findet nur noch seine Leiche. Denniz (Dominik Ganser) ist die Titelfigur dieses achtzehnten „Helen Dorn“-Films, der nun einen enormen Handlungsreichtum entwickelt.
Eine wichtige Rolle spielen dabei zwei Subtexte, die für den weiteren Verlauf der Ereignisse von entscheidender Bedeutung sind: Dorn (Anna Loos) steht unter Beobachtung. Ihr Chef, Nedjo Kristic (Stipe Erceg), hält sie für labil und besteht auf regelmäßigen Sitzungen bei einer Psychologin, weil sie nicht verhindern konnte, dass sich ein Mann vor ihren Augen das Leben genommen hat („Die letzte Rettung“, 2021). Die Stimmung in der Stadt ist ähnlich angespannt, seit vor einigen Wochen ein Roma-Kind von einem Streifenwagen angefahren worden ist. Nun wird es etwas kompliziert: Kristic gehört ebenso wie die Schulleiterin (Anica Dobra) zu den Sinti, Rocco und Denniz zu den Roma. Abedi, deren Eltern aus Nigeria stammen, ist schwanger, weshalb sie aus Sicht ihres muslimischen Bruders Deon (Yalany Marschner) Schande über die Familie gebracht hat. Der junge Mann drängt sich als mutmaßlicher Mörder Roccos geradezu auf. Dass der Imam seiner Gemeinde als islamistischer Prediger ins Visier des Verfassungsschutzes geraten ist und Deon als potenzieller Gefährder gilt, ergänzt die Geschichte um eine weitere Ebene und sorgt gegen Ende für einen kleinen Besetzungsknüller, als sich eine Staatsschützerin einmischt und Dorn den Fall wegnimmt. Eigentlicher Gegenspieler der Kommissarin ist jedoch der von Eray von Egilmez charismatisch verkörperte Imam.
Die vielen kulturellen, ethnischen und religiösen Faktoren hätten leicht dazu führen können, dass das Drehbuch überfrachtet wirkt; selbst der sonst so fröhliche Kriminaltechniker Weyer (Tristan Seith) wird ungewohnt wortkarg, als er einen verblüffenden biografischen Hintergrund offenbart, der zur Geschichte passt. Dass die Schulleiterin ein Verhältnis mit der Mutter (Simonida Selimović) der Brüder hat, hätte indes nicht auch noch sein müssen. Davon abgesehen lässt der mehrfache Grimme-Preisträger Fromm („Unter Verdacht“, „Die Wölfe“, „Weissensee“) die verschiedenen Informationen so geschickt in die Dialoge einfließen, dass „Der kleine Bruder“ nie zum Proseminar und der Krimi nicht zum Themenfilm wird. Außerdem hat er diverse dank Kamera, Musik und Schnitt packend umgesetzte Szenen zu bieten, sodass er die Erwartungen an eine Reihe wie „Helen Dorn“ problemlos erfüllt.
Darüber hinaus überrascht Fromm mit einer originellen Alternative zur Rückblende: Plötzlich läuft der Film über den Handlungsbeginn hinaus rückwärts. Clever präsentiert er Roccos Flucht zudem als Parallelmontage: Zur gleichen Zeit hat Dorn einen Termin bei der Psychologin und nutzt die Zeit, um mit großer Hingabe die Dienstwaffe zu reinigen. Bettina Stucky holt aus ihrer kleinen Rolle womöglich mehr raus, als ursprünglich drin steckte. Die Psychologin formuliert mit der plausiblen Analyse der Polizistin auch den Schlüssel zur Handlung: „Wut entsteht oft, wenn Schmerz keinen Platz bekommt.“ Das gilt für fast alle Beteiligten, vor allem aber natürlich für Denniz, der Roccos Pistole an sich genommen hat. Im Rahmen der Proben für „Romeo und Julia“ als Breakdance-Drama fragt Abedi, wie weit seine Blutrache gehen soll: „Bis alle tot sind?“ Die digitale Versiertheit des Mädchens sorgt für eine zusätzliche Ebene, denn Rocco hatte eine Idee, wie sich mit wenig Aufwand viel Geld machen lässt. Diesen Plan will Denniz nun umsetzen, aber dafür muss er einen Pakt mit dem Teufel eingehen; Kerem Can ist als Gangster eine weitere Bereichung für das ohnehin vorzüglich zusammengestellte Ensemble. (Text-Stand: 3.10.2023)