Während die Zuschauer*innen bei „Terror“ in die Rolle von Richtern schlüpften, werden sie bei „GOTT von Ferdinand von Schirach“ zu Mitgliedern des Deutschen Ethikrates. Mit Blick in die Kamera fordert die Vorsitzende des Ethikrats (Barbara Auer) das Publikum zu Beginn auf, ausschließlich dem zu folgen, „was Sie für vertretbar und richtig halten“. Es geht ums Ganze, um Leben und Tod, um die Menschenwürde und selbstbestimmtes Sterben, um Philosophie und Rechtsgeschichte, um ärztliches Selbstverständnis und die christlich-religiösen Wurzeln unserer Gesellschaft. Ausgehend von einem konkreten Fall, konfrontiert Ferdinand von Schirach das Publikum mit den komplexen Dimensionen des Themas Sterbehilfe. „Es ist eine der Fragen, die sich jeder Mensch stellen muss. Wem gehört unser Leben? Wer darf darüber entscheiden, wie wir sterben wollen? Der Titel ergibt sich aus dem Stück: Sind Ärzte die Götter, die das entscheiden? Sind es Juristen? Sind es die Kirchen mit ihrem biblischen Gott? Oder ist der Mensch selbst Gott über seinen Tod?“, wird der Jurist und Bestsellerautor im Presseheft der ARD zitiert.
Wie bei „Terror – Ihr Urteil“ sind auch diesmal die Zuschauer*innen wieder aufgerufen multimedial abzustimmen und mitzudiskutieren. Nach Verkündung des Ergebnisses wird Frank Plasberg die Zuschauerentscheidung in seiner Sendung „hart aber fair“ mit Experten erörtern.
Konkret geht es um den 78-jährigen Richard Gärtner (Matthias Habich). Der ehemalige Architekt ist sich nach dem Tod seiner Frau Elisabeth „selber ganz und gar abhanden gekommen“, sagt er. Sie starb vor drei Jahren nach einer langen Leidenszeit an einem Hirntumor. Beide waren 42 Jahre miteinander verheiratet. Gärtner schildert, Elisabeth sei gläubig gewesen und habe am Ende um ein Mittel gebeten, das ihr Leben beenden sollte, habe es aber nicht bekommen. Er selbst sei bis auf altersbedingte Zipperlein gesund. Dennoch möchte Gärtner sein Leben beenden. Elisabeth sei weg – „und ich bin noch da. Das ist nicht richtig, nicht nach 42 Jahren“. Außerdem möchte er nicht dement werden, nicht wie seine Frau in einer Klinik an Schläuchen enden. Mit seinen beiden erwachsenen Söhnen habe er „immer wieder diskutiert. Sie haben’s, nun ja, akzeptiert“. Es besteht kein Zweifel, dass Gärtner bei klarem Bewusstsein ist und nicht auf Drängen anderer aus dem Leben scheiden will.
Befragt werden nun nacheinander Gärtners Hausärztin (Anna Maria Mühe), eine Rechtsprofessorin und Verfassungsrichterin (Christiane Paul), ein Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer (Götz Schubert) und ein katholischer Bischof (Ulrich Matthes). Gärtner wird vertreten von Rechtsanwalt Biegler (Lars Eidinger), ihnen gegenüber sitzt Frau Dr. Keller (Ina Weisse), eine Mitarbeiterin des Ethikrates. Biegler und Keller befragen die Sachverständigen, was mal Info-Block, mal Streitgespräch sein kann. Sie agieren teilweise wie Verteidiger und Staatsanwältin, auch sind die Protagonisten wie in einem Gerichtssaal angeordnet. Im Saal sitzt ein bunt gemischtes Publikum, das mit vereinzelten Zwischenrufen Einfluss nimmt, aber von der Vorsitzenden sofort in die Schranken verwiesen wird.
„Wann ist denn die Auseinandersetzung mit dem Tod einfach? In Wahrheit doch zu keinem Zeitpunkt. Nichtsdestotrotz sind oder werden wir alle früher oder später damit konfrontiert. Ein solches Thema aber gerade während einer weltweiten Pandemie zu verdrängen oder zu tabuisieren, wäre sicher nicht richtig.“ (Christine Strobl, Degeto-Geschäftsführerin)
„Die Zuschauer*innen sollen herauskommen aus der Komfortzone, vom passiven zum aktiven Teilnehmer werden. Den festgefahrenen Gedanken neuen Raum geben und vielleicht zu neuen Überlegungen und Einsichten kommen. Und wieder ist es erstaunlich zu erleben, dass, wie bei ,Terror – Ihr Urteil‘, unsere Meinung im Laufe des Films mit jedem neuen Zeugen bzw. Sachverständigen in Frage gestellt wird.“ (Oliver Berben und Heike Voßler, Produzenten)
„Wenn diese Filme dokumentarisch wirken, ist das allein der großen Kunst der Schauspieler*innen zu verdanken, denn die Stücke sind abstrakte Versuchsanordnungen, die nur vorgeben, in einem realistischen Rahmen stattzufinden. (…) Ferdinand von Schirach dramatisiert extrem konzentrierte Sachverhalte von sehr komplexen Diskussionen. Die Schauspieler*innen müssen ihre sehr umfangreichen Texte extrem gut lernen, denn diese Theaterstücke erlauben keinerlei Improvisation.“ (Lars Kraume, Regie)
Regisseur Lars Kraume inszeniert das Stück wie bei „Terror“ als Gerichtsdrama, was hier freilich problematisch ist. Zum einen sieht es nun so aus, als säße Gärtner auf der Anklage-Bank. Zum anderen können Kraume und von Schirach das Spannungsversprechen eines „court drama“ nicht wirklich einhalten, trotz der klassischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Während es bei „Terror“ auch um die detaillierte Rekonstruktion im Fall eines von Terroristen entführten Flugzeugs ging, verliert „Gott“ den Einzelfall Richard Gärtner über weite Strecken aus den Augen. Und obwohl die Inszenierung etwas anderes suggeriert, läuft das Stück eben nicht auf ein Urteil zu, sondern auf eine persönliche Gewissensentscheidung. Dem Bestseller-Autor ist da offenkundig die historische Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 in die Quere gekommen. Karlsruhe betonte das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ und kippte den §217 des Strafgesetzbuchs, der seit 2015 die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid unter Strafe gestellt hatte – was dazu führte, dass nahestehende Personen straffrei Beihilfe leisten durften, Ärzte aber ebenso wenig wie Sterbehilfeorganisationen.
Mit dem Urteil wäre ein Strafrechts-Drama nicht mehr aktuell gewesen. Die Konstruktion mit der fiktiven Ethikrat-Sitzung ist sozusagen aus der Not geboren und wirkt nun auch so. Aber an der Relevanz des Themas mit seinen vielen ethischen, philosophischen und auch praktischen Facetten ändert die verfassungsrechtliche Klarstellung aus Karlsruhe natürlich nichts. Das wird in den Dialogen schnell deutlich, die einen weiten Horizont öffnen, allerdings auch ein gewisses Durchhaltevermögen erfordern. Was für ein mit Fachwissen und Details gespickter Drehbuch-Text! Man ist interessiert, fasziniert, überfordert und lässt sich im nächsten Moment wieder mitreißen, schwankt beständig hin und her – eine wortreiche Achterbahnfahrt, die bisweilen überfrachtet erscheint, aber niemals in überflüssige Quasselei mündet. Hier steht das Wort zu Recht über allem und entfaltet eine Spannung aus sich heraus. Ohne eine erstklassige Besetzung wäre ein solch dialoglastiges Stück leicht eine Zumutung. Großartig zum Beispiel, wie ruhig und ernsthaft Ulrich Matthes dem konservativen Bischof Haltung und Statur verleiht. Gar nicht so leicht, sich in dem prickelnden Duell mit dem wie bereits in „Terror“ scharfzüngig und eine Spur arrogant agierenden Eidinger auf die Seite des Anwalts zu schlagen. Der Schlagabtausch zwischen Bischof und Jurist ist der Höhepunkt des Stücks, ein intellektueller Streit, gespickt mit historischen Verweisen und philosophischen Anspielungen, eine Abrechnung mit Religion und Christentum – und ihre Verteidigung.
Es scheint allerdings so, als würde Kraume dem Publikum bei so viel abverlangter geistiger Beweglichkeit keine weitere Dynamik mehr zumuten wollen. Würde Eidinger nicht den vorlauten Anwalt geben, der auch mal durch den Saal schreitet, würde Witwer Gärtner nicht mal empört aufstehen und dem medizinischen Sachverständigen auf den Pelz rücken, könnte man die minimalistische Inszenierung durchaus als steifes Anti-Fernsehen schelten. Wie Ina Weisse, die vor allem im Rededuell mit Christiane Paul eine gute Figur abgibt, bei ihrem Schlussvortrag zur Salzsäure erstarrt, ist bezeichnend. Barbara Auer ist in der Rolle der Vorsitzenden unterfordert. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, den Rechtsanwalt ab und zu zur Ordnung zu rufen. Ihr Credo: die Form wahren. Das gilt auch für Kraumes Inszenierung, die nach dem Publikumserfolg von „Terror“ an der einmal eingeübten Form festhält. Die Wände sind nun mit Holz verkleidet, was eine weniger kühle Atmosphäre schafft. Einige volle Bücherregale signalisieren intellektuelle Reife und stehen für den fiktiven Schauplatz, die Bibliothek des Ethikrates. Und hinter der großen Glasfront blickt man nicht mehr auf den Reichstag, sondern auf das Brandenburger Tor und den Pariser Platz. Sonst hat sich nicht viel geändert. Aber „GOTT“ hätte einen anderen Raum – und eine eigene Form – verdient gehabt.
Vor der Ausstrahlung von „Terror“ hatte es scharfe Einwände gegeben. Kritiker hielten der ARD vor, man könne Grundrechte wie das Recht auf Leben nicht in einer medialen Volksabstimmung zur Disposition stellen. Nun bewirbt die ARD „GOTT nach Ferdinand von Schirach“ zwar erneut als „TV-Event“, doch Programmdirektor Volker Herres und Degeto-Chefin Christine Strobl geben sich diesmal betont demütig: „Wie auch immer die Abstimmung ausgeht, eines sollte von Anfang an klar sein: Das Voting darf nicht als verkapptes, medial inszeniertes Plebiszit über ein sensibles Thema missverstanden werden“, schreiben sie im Vorwort des ARD-Presseheftes. Nach der Ausstrahlung von „Terror“ hatten sich 600.000 Zuschauer an der Abstimmung beteiligt, wobei der von der ARD beauftragte Dienstleister mit dem Ansturm in wenigen Minuten überfordert war und manche ihre Stimme offenbar nicht abgeben konnten. Nun sei technisch aufgerüstet worden, beteuert Frank Plasberg, der erneut eine „Hart aber fair“-Sendung zum Thema moderieren wird. Auch hätten die Zuschauerinnen und Zuschauer etwas mehr Zeit, ihre Stimme abzugeben – laut Programmablauf ist es diesmal etwa eine Viertelstunde. Dafür ist die Fragestellung diesmal nicht ganz eindeutig. Denn es macht doch einen Unterschied, ob man es grundsätzlich für richtig hält, dass Gärtner das tödliche Medikament erhält, oder ob man bereit wäre, dies auch persönlich zu tun. „Würden Sie es tun, wenn Sie Arzt wären?“, fragt die Vorsitzende am Ende und gibt der Abstimmung etwas unverhofft noch einen anderen Dreh.