Der Zweiteiler „Gladbeck“ ist mehr als die Chronologie eines irrwitzigen Verbrechens. Der Thriller wird angesichts des Versagens von Polizei und Medien zu einem sich in immer absurdere Wendungen steigernden Drama. Die quälend genaue Inszenierung der realen Tragödie lässt ihr Publikum angesichts zahlreicher „Das kann doch nicht wahr sein“-Momente fassungslos zurück. Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski fuhren im August 1988 nach einem missglückten Banküberfall im Ruhrgebietsort Gladbeck mit ihren Geiseln kreuz und quer durchs Land. Unterwegs stieß noch Rösners Freundin Marion Löblich dazu. In Bremen kaperte das Trio einen Linienbus. Die Odyssee wurde dank des Jagdfiebers der Medien zu einem zynischen Live-Schauspiel, lange bevor es das Internet und Smartphones gab. Einige Bilder sind haften geblieben, gehören zum zeitgeschichtlichen Kanon der 1980er Jahre, die hier übrigens in einem exzellenten Szenenbild (Albrecht Konrad) wieder aufleben: das von einer Menschentraube umringte Fluchtauto in der Innenstadt Kölns; Rösner, der auf der Straße in Bremen Interviews gibt und sich dabei die Pistole in den Mund schiebt; Degowski, der seine Waffe an den Kopf der Geisel Silke Bischoff hält. Die 18 Jahre junge Frau wurde beim finalen Akt des Dramas auf der A3 bei Bad Honnef erschossen, ebenso wie zuvor der 15-jährige Emanuele de Giorgi an der Autobahnraststätte Grundbergsee. Außerdem starb ein Polizist bei einem Verkehrsunfall im Zusammenhang mit dem Einsatz.
Foto: Degeto / Ziegler Film / Menke
Die minutiöse Inszenierung zieht unweigerlich in den Bann
Der Film beinhalte fiktionale Elemente und bewerte die historischen Abläufe eigenständig, heißt es auf einer schriftlichen Einblendung zu Beginn. Das macht etwas stutzig, denn eigentlich besteht „Gladbeck“ fast ausschließlich aus „fiktionalen Elementen“. Hier und da wurden Ausschnitte aus der „Tagesschau“ und anderen Nachrichtensendungen eingebaut, aber Kilian Riedhofs Inszenierung setzt in seiner minutiösen Inszenierung auf Atmosphäre und Rhythmus. Das ständige Auf und Ab in jenen 54 Stunden, die Nervosität, Angst und Verunsicherung aller Beteiligten, die Momente der Hoffnung auf einen guten Ausgang – all das wird so dicht und intensiv herausgearbeitet, dass es den Betrachter unweigerlich in den Bann zieht, mitleiden und bisweilen zornig werden lässt. „Gladbeck“ hält sich dabei weit genauer an die realen Abläufe als etwa Bernd Schadewalds Zweiteiler „Ein großes Ding“ aus dem Jahr 1999. Auch die Formulierung „eigenständige Bewertung“ klingt eher nach einer Formel, die den Film vor juristischen Angriffen schützen soll als nach einem sachdienlichen Hinweis fürs Publikum. Der inhaftierte Rösner hatte tatsächlich versucht, den Film zu verhindern, weil er dadurch seine Wiedereingliederung gefährdet sah. Nach der Ablehnung seiner Klage durch das Oberlandesgericht Köln im Januar 2017 verzichtete er aber auf eine Verfassungs-Beschwerde. Das Persönlichkeitsrecht Rösners, so das OLG Köln, müsse angesichts der spektakulären, einzigartigen Straftat, die untrennbar mit seinem Namen verbunden und öffentlich dokumentiert sei, hinter der Kunstfreiheit zurücktreten.
„,Gladbeck‘ ist kein Dokudrama, sondern ein dramatisch verdichtender Spielfilm. Er legt Wert auf größtmögliche Faktentreue, bis hin zu Bewegungsabläufen und Körpersprache von Tätern und Opfern in den dokumentierten Parts. Doch gerade bei einem derart öffentlichen Verbrechen, von dem es zahlreiche Bilddokumente gibt, reicht es nicht, in naturalistischer Nachahmung zu verharren. Uns ging es vielmehr darum, die innere, psychische Realität dieses Verbrechens in seiner düsteren Sakralität zu fassen.“ (Regisseur Kilian Riedhof)
Foto: ZDF / Oliver Ziebe
Foto: Degeto / Ziegler Film / Menke
Die erste Polizei-Panne und der Kampf um die besten Bilder
Spektakulär und einzigartig – wohl wahr. Es beginnt in einer Filiale der Deutschen Bank im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord. Zufällig wird der Überfall am Morgen des 16. August 1988 beobachtet und der Polizei gemeldet. Und schon passiert die erste Panne. Weil Rösner und Degowski eine Streife entdecken, nehmen sie zwei Bank-Angestellte als Geiseln. Auffällig schon hier: Rösner und Degowski, von Sascha Alexander Geršak und Alexander Scheer verblüffend genau verkörpert, sind eher Nebenfiguren, die schemenhaften Szenen aus dem Bank-Inneren rücken die beiden Geiseln Karin (Amelie Kiefer) und Harald (Johannes Allmayer) in den Mittelpunkt. Das Publikum verfolgt die Ereignisse aber überwiegend aus der Perspektive der Polizei. Gedreht wurde am Originalschauplatz, teilweise in dokumentarischer Video-Optik (Kamera: Armin Franzen), und auch dank des Stimmengewirrs des Polizeifunks (Ton: Jörg Kidrowski) sind die Zuschauer mit dem Ohr dicht am Geschehen. Ulrich Noethen spielt den Einsatzleiter in Recklinghausen, einen korrekten Beamten, der „strikt nach PDV 132“ vorgehen will, soll heißen: Die Geiselnehmer so lange zermürben, bis sie aufgeben. Jedenfalls kein Zugriff auf Teufel komm raus, der das Leben der Geiseln gefährde. So lautet auch die Anweisung aus dem Innenministerium in Düsseldorf. Doch der Druck steigt im Verlauf der ersten Stunden sukzessive, im Einsatzzentrum wird gestritten, ein Zugriff erwogen und verworfen, in der Bank steigt die Nervosität. Nachdem die Gangster eine der Geiseln bei einer Zeitung anrufen ließen („Wir haben Angst, dass sie stürmen“) und die erste Eilmeldung über den Ticker gelaufen ist, versammelt sich eine Menge von Journalisten und Schaulustigen vor Ort. Die Medienlandschaft ist mit dem Start der Privatsender vor vier Jahren gewaltig in Bewegung geraten, der Kampf um die besten Bilder aus der ersten Reihe ist eröffnet. Journalisten rufen in der Bank an, stellvertretend tritt im Film Hans Meiser von RTLplus in Erscheinung: „Kann ich bitte einen Geiselnehmer sprechen?“, fragt er höflich, als rufe er nicht im Epizentrum eines Verbrechens, sondern bei irgendeiner Pressestelle an.
Foto: Degeto / Ziegler Film / Menke
Erschütterndes Lehrstück für jede Journalisten-Ausbildung
Aber auch die Fehler öffentlich-rechtlicher Redaktionen werden noch thematisiert. Zu den wichtigsten Originalbildern zählt im zweiten Teil ein Kommentar von Sabine Christiansen. Das Interview mit Rösner in Bremen nennt sie ein „makabres Dokument“. Die Entscheidung, es auszustrahlen, „ist uns nicht leicht gefallen“ – aber gesendet wird es am Abend des 17. August in den ARD-„Tagesthemen“ doch. Da hat das ZDF Glück gehabt, denn der für die ARD produzierte Zweiteiler hätte auch an das „Heute-Journal“ erinnern können. Dessen Redaktion hatte das von einem Reporter von Radio Bremen aufgenommene Material bei der technischen Übermittlung an den WDR stibitzt und, ohne zu fragen, bereits eine halbe Stunde vor den „Tagesthemen“ ausgestrahlt. Damit ließen sich bei ARD aktuell in Hamburg die letzten Bedenken natürlich umso leichter wegwischen. Auch wenn dieses Detail nicht Eingang in das penibel recherchierte Drehbuch von Holger Karsten Schmidt („Mord in Eberswalde“) gefunden hat, ebenso wenig wie Frank Plasbergs Rolle in Köln, wo er als Hörfunkreporter des Südwestfunks ein – allerdings nicht ausgestrahltes – Interview mit den Geiselnehmern führte, taugt dieser Zweiteiler als erschütterndes Pflicht-Lehrstück für jede Journalisten-Ausbildung. Da gibt es Reporter, die der mit einer Waffe bedrohten Silke Bischoff das Mikrofon vor die Nase halten und fragen: „Wie geht es Ihnen?“ Ein Fotograf fordert Degowski auf, „dem Mädchen“ doch noch mal die Pistole an den Kopf zu halten. Auch die Polizeiarbeit wird von den Medienvertretern tatkräftig behindert. Als Beamte in Zivil in Köln versuchen, sich durch die Menschentraube unauffällig bis zum Fluchtauto vorzuarbeiten, verteidigt mancher Reporter seinen Platz in den vorderen Reihen. Einer ruft laut: „Kann ich mal Ihren Dienstausweis sehen?“ Die Polizei muss sich wieder zurückziehen.
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Schuch & Klawitter spielen Schlüsselfiguren nicht als Klischee
Albrecht A. Schuch und Arnd Klawitter spielen die beiden journalistischen Schlüsselfiguren allerdings nicht als Klischee vom jederzeit rücksichtslosen Schlagzeilen-Jäger. Klawitter ist Udo Röbel vom Kölner „Express“, der ins Auto steigt und die Geiselnehmer aus der Stadt lotst. Röbel wirkt hier keineswegs wie ein skrupelloser Boulevardjournalist, der sein Glück nicht fassen kann, sondern wie einer, dem durchaus daran gelegen ist, mit seinem Einsatz kein Unheil anzurichten. Ob der spätere „Bild“-Chefredakteur diese differenzierte Darstellung verdient hat, sei mal dahingestellt. Nur Klawitters rheinischer Akzent wirkt nicht sehr überzeugend. Den Zwiespalt repräsentiert insbesondere der Fotograf Peter Meyer, der in Bremen angesichts des Abtauchens der Polizei unfreiwillig zum Vermittler wird. Zu Beginn stolziert Darsteller Albrecht A. Schuch noch wie ein eitler Gockel herum, doch die Selbstgewissheit in seinem Gesicht weicht schnell. Meyer tut sein Bestes, aber die Gelegenheit, Bilder von den Geiseln im Bus zu schießen, nutzt auch er.
„Die Medien von damals, die vorangegangenen Verfilmungen, sie alle rückten überwiegend die Täter ins Zentrum. Dort waren sie für mein Empfinden lange genug. Zu lange. Und natürlich kann man diese Geschehnisse nicht ohne die intensive Auseinandersetzung mit den Tätern erzählen, und sie auszusparen – was rein erzählerisch unmöglich ist – wäre darüber hinaus ebenso einseitig. Ich hoffe, wir haben in einer anstrengenden, intensiven Teamleistung den Blick auf die Gladbecker Geiselnahme um einen neuen ergänzt, in denen den Opfern mehr Raum zur Verfügung gestellt wird.“ (Autor Holger Karsten Schmidt)
Foto: Degeto / Ziegler Film / Menke
Polizei-Chaos in Bremen und die deutsche Vergangenheit
In Gladbeck wird deutlich, wie schwierig es für die Polizei sein kann, eine sichere Risikoabwägung zu treffen. In der darauf folgenden Odyssee häufen sich allerdings die hanebüchenen Situationen, in denen Gelegenheiten zum Zugriff verpasst werden. Besonders chaotisch geht es bei der Polizei in Bremen zu. Martin Wuttke spielt den überforderten Leiter der Kripo, Stephan Kampwirth den Innensenator, der das mögliche gezielte Ausschalten des Trios Rösner, Degowski, Löblich (Marie Rosa Tietjen) ablehnt: „Ein deutscher Staat darf niemals mehr willkürlich auf seine Bürger schießen.“ Sind also nicht nur Kompetenzgerangel, mangelhafte Ausrüstung, Unfähigkeiten und Eigenmächtigkeiten bei der Polizei mitverantwortlich für den fatalen Ausgang des Dramas, sondern auch falsche Lehren aus der Vergangenheit? Das ist wohl eine dieser „eigenständigen Bewertungen“, über die sich streiten ließe. Am Ende dann wird auf der A3 aus allen Rohren geschossen, ohne Rücksicht auf die Geiseln Silke (Zsa Zsa Inci Bürkle) und Ines (Lilli Fichtner). Das tragische Finale ebenfalls so exakt wie möglich zu inszenieren, mag konsequent sein. Aber wie es auch hätte funktionieren können, zeigt Kilian Riedhof ganz zu Beginn in einer Vorblende selbst: Während die Kamera nur auf den Asphalt der Autobahn hält, hört man die rasenden Autos, den Aufprall des rammenden SEK-Fahrzeugs, die Schüsse und Schreie, sieht aber kein weiteres Bild von einem Verbrechen, von dem es schon viel zu viele Bilder gibt.
Vom Zwiespalt im Umgang mit den Opfern
Die Todesschüsse gegen Emanuele (Riccardo Campione) und Silke zeigt die Kamera zwar aus gehöriger Distanz. Dennoch gehört zum Zwiespalt einer solchen Verfilmung, dass auch die Opfer mal wieder in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Allerdings werden Silke Bischoff und Emanuele di Giorgi nicht allein auf ihren Opfer-Status reduziert. Autor Schmidt skizziert mit einigen Szenen ihr familiäres und bei Silke auch ihr berufliches Umfeld. Zugleich rückt „Gladbeck“ das Leid der Angehörigen in den Blickpunkt, insbesondere das der Familie di Giorgi. Zu den erschütterndsten Szenen gehört, wie Emanueles Vater Aldo (Vinicio Marchioni) bei einer Video-Vorführung auf einer Polizeiwache seine beiden Kinder als Geiseln identifiziert. Auch Emanueles kleine Schwester Tatiana (Giolina Ardente) ist mit im Bus und wird von Rösner vor laufenden Kameras mit der Waffe bedroht. Als übereifrige Polizisten Marion Löblich auf der Toilette der Raststätte Grundbergsee festnehmen, verliert Degowski die Nerven und schießt auf Emanuele, der sich schützend vor Tatiana stellt. Journalisten versäumen nicht, das Opfer zu fotografieren, leisten aber auch erste Hilfe. Umsonst, denn es dauert, bis der Rettungswagen kommt. Bei der Polizei hatte niemand daran gedacht, Ärzte und Sanitäter vor Ort einsatzbereit zu halten. (Text-Srand: 5.3.2018)