Während Lennart (Jürgen Vogel) seiner Freundin Melanie (Anna Maria Mühe) im Kreißsaal beisteht, referiert seine Mutter vor Gericht über den Unterschied zwischen Familie und Ehe. „Wenn wir diese Welt betreten, können wir uns nicht aussuchen, bei wem“, sagt sie, während wir sehen, wie Melanie unter Schmerzen das Baby herauspresst. Anders die Ehe, die suche man sich aus, erklärt die Hamburger Anwältin Lea Behrwaldt (Iris Berben). „Niemand ist dazu verpflichtet, unglücklich zu sein.“ Sie selbst hat wenig Interesse, wie es scheint, weder an Ehe-Glück noch an Familien-Pflichten. Doch weil ihr Sohn nun Vater geworden ist und ihre alte Mutter Alba (Marie Anne Fliegel) in der großen Berliner Villa zu vereinsamen droht, taucht sie doch wieder ein ins Familienleben und nimmt sofort die Zügel in die Hand. Oder versucht es zumindest. Ihr Sohn sträubt sich allerdings: „Mama, du machst deins und ich mach’ meins, okay?“ Lennart ist ein erfolgreicher Sternekoch, der trotz der Beziehung zu Melanie und der Geburt des gemeinsamen Babys regelmäßig mit Köchin Nida (Natalia Belitski) schläft.
Die ersten Szenen lassen befürchten, dass hier ein weiterer Film aus der Gattung Publikumsliebling Iris Berben als starke Frau im Zentrum und einigen Nebenfiguren drumherum entstanden ist. Der Eindruck täuscht, der Titel „Familie!“, der nach Stoßseufzer und pathetischem Bekenntnis zugleich klingt, verspricht nicht zuviel. Das Drehbuch erzählt ein verzweigtes, nicht in allen Details überzeugendes, aber doch spannendes Familiendrama mit fünf nahezu gleichberechtigten Hauptrollen, und die sensible Inszenierung von Dror Zahavi lässt auch (fast) keine der Neben-Figuren flach und eindimensional aussehen. Zum Beispiel Melanies Mutter Doris Dombrowski, eine Paraderolle für Katharina Thalbach. Sie spielt eine einfache Frau, die vor den eigenen Familienproblemen tapfer die Augen verschließt, aber eben auch zu ihrem arbeitslosen, alkoholkranken Mann Dieter (Werner Wölbern) steht.
Die Besetzung knüpft zum Teil an eingefahrene Fernseh-Muster an, bei Iris Berben ist das so, auch bei Katharina Thalbach. Am auffälligsten aber bei Jürgen Vogel, der mal wieder eine deformierte männliche Type spielt. In Lennarts Rolle ist eine ordentliche Portion Blochin enthalten: der coole Typ auf dem Motorrad, sein Ego-Trip, die Beschädigung durch Erlebnisse in der Vergangenheit. Im Gegensatz zum rabiaten Polizei-Außenseiter aus der ZDF-Serie „Blochin“ spielt Vogel hier allerdings weniger körperbetont und weniger verschlossen. Vor allem im zweiten Teil, in dem Lennart aus dem künstlichen Koma aufwacht und sich mit Hilfe von Psychotherapeut Dr. Mertens (Bernhard Schir) der Suche nach den Ursachen für seine – in psychedelischen Einschüben inszenierten – Unter-Wasser-Halluzinationen stellt. Im ersten Teil lenkt Lennart sein Motorrad ungebremst in einen Lastwagen, weil ihm Nida mit hübschem Akzent („Wir sind vorbei“) den Laufpass gibt, und weil er gleichzeitig auch seinen Stern im neuen Restaurantführer verliert. Für Lennart ist das Kochen die größte Leidenschaft und die Küche das liebste Zimmer in seinem „Haus des Glücks“, das er sich auf Mertens‘ Rat vor dem inneren Auge zimmert. Trotz einiger schön arrangierter Kunstwerke auf dem Teller, trotz einer ungewohnt entspannten Atmosphäre in der Profi-Küche können Inszenierung und Vogels Spiel diese besondere Leidenschaft nur behaupten.
Der Zweiteiler besitzt aber ein reiches dramatisches Potenzial, in dem verschiedene Facetten des Familien-Themas abwechslungsreich und stimmig ineinander fließen. So entsteht mit dem Baby eine Verbindung zwischen zwei höchst unterschiedlichen Familien: Die Behrwaldts repräsentieren das Großbürgertum, die Dombrowskis die sogenannten kleinen Leute. Wohlhabender, standesbewusster Juristen-Clan trifft auf stolzen, verarmten Handwerker-Haushalt. Der Clash der Kulturen gibt schöne Vorlagen für einige tragikomische Szenen und Dialoge wie bei der ersten Begegnung von Alba („Mein Vater war Präsident am Verwaltungsgericht“) und Doris („Mein Dieter war Bezirksingenieur beim Tiefbauamt“). Man ist sich fremd, hofft aber Nutzen zu ziehen aus der Verbindung: Anwältin Lea hofft auf Gesellschaft für ihre Mutter, die Dombrowskis auf materielle Vorteile. Mit der Zeit entwickeln sich gegenseitige Sympathien, lockern sich gegenseitige Vorbehalte und Fremdheit auf, ohne dass es zu pathetisch oder plump würde.
„Uns interessiert, wie Familie im Jahr 2016 aussieht, wie sie funktioniert. Welche Rolle sie spielt in einer Zeit, in der alle nur noch etwas werden wollen und niemand mehr weiß, wie man jemand ist“, zitiert das ZDF die Produzenten Oliver Berben & Jan Ehlert. Die Behrwaldts mit ihrem Luxus-Villa-Problem sind vielleicht nicht sehr repräsentativ, aber aus dem sozialen und kulturellen Gefälle der Familien zieht der Film einen Teil seiner Dynamik und seines Humors. Und mit einer dritten Ebene relativiert er zugleich deren Probleme: Nida ist eine ernste Schönheit aus Litauen, die in der Heimat zwei Kinder zu versorgen hat. Ein Gangster, der die Spielschulden ihres Mannes eintreiben will, setzt sie unter Druck. Brutale Visage, Akzent – der kriminelle Osteuropäer ist eine arg verbrauchte Stereotype, und man würde sich wünschen, dass Autoren mal wieder etwas anderes einfällt. Den Bösewicht auf deutscher Seite gibt Melanies Bruder Jörn (Guenther), der ebenfalls im Restaurant arbeitet und Nidas Zwangslage nach Lennarts Unfall ausnutzt. Im letzten Bild, einer Art Familien-Aufstellung, fehlt er dann bezeichnenderweise. Schwarze Schafe werden in Familien gern totgeschwiegen.
Diese Anleihe an konventionelle Krimis ist nicht besonders originell, erfüllt aber ihren Zweck. Und ist vor allem dank Natalia Belitski der Rede wert. Die junge Schauspielerin gehört auch in diesem üppig besetzten Ensemble zu den eindrucksvollsten Kräften. Wie überhaupt die weiblichen Rollen diesen Zweiteiler tragen, der viel Stoff verhandelt, anfangs etwas unübersichtlich ist, aber dann schnell in die Spur findet. Es geht um eine Liebe im Dreieck, die Kluft zwischen den Generationen, Patchwork-Alltag und eine unbewältigte Vergangenheit. Neben Belitski und Marie Anne Fliegel, die so beängstigend finster blicken kann und recht überzeugend von einer verknöcherten Alten zur reuigen „Drachen-Oma“ wird, ragt vor allem Anna Maria Mühe heraus. Melanie wirkt anfangs naiv und zu keinem eigenen Entschluss fähig. Lennart hat leichtes Spiel, und selbst wenn er einlenkt und bereit ist, mit „Mel“ und Baby in Albas Villa einzuziehen, ist es letztlich er, der Mann, der die Entscheidung trifft.
Anna Maria Mühe dabei zuzusehen, wie Melanie an Format und Eigenständigkeit gewinnt, ist ein Vergnügen. Aus der glückseligen Mutter wird eine Partnerin auf Augenhöhe, die sich gegen ihr Alleingelassensein (selten zuvor wurde ein Baby derart konsequent durchs Bild getragen) mit zunehmender Klarheit wehrt. Außerdem bringt sie noch den schulpflichtigen Tim aus ihrer ersten Beziehung mit in die Villa. Dessen Vater Gero (Pietschmann) wird eher uncool eingeführt, auf dem Fahrrad (mit Helm!), während Lennart und Tim auf dem Motorrad vorfahren. Gero macht Melanie das Leben schwer, weil er zugleich der Vermieter der Dombrowskis ist, aber man darf dem Film anrechnen, dass der Patchwork-Vater zwar etwas verkniffen, sein Interesse an Tims Wohlbefinden aber glaubwürdig dargestellt wirkt.
So findet sich in „Familie!“ trotz exklusiver Schauplätze (das Szenenbild von Gabriele Wolf ist außergewöhnlich gut) auch ein guter Schuss Normalität. Besonders exklusiv ist übrigens Lea Behrwaldts Hamburger Kanzlei mit glänzend eingerichteten Räumen in beachtlichen Dimensionen. Die erfolgreiche, aber einsame Anwältin soll hier wohl ein bisschen verloren wirken. Iris Berben spielt diese Figur zunehmend sehenswert, verleiht ihr mit der Zeit weichere Züge, ohne Haltung und Format einer Karrierefrau aus der besseren Gesellschaft zu verlieren. Manchmal wird es ein bisschen viel, die sich wiederholenden Rede-Duelle mit ihrem Sohn und ihrer Mutter, der sich im Kreis drehende Generationenkonflikt, den erst die Dombrowskis und vor allem Melanie und die Kinder aufzubrechen verstehen. Die Annäherung gelingt jedoch ohne melodramatischen Überschuss und mündet in ein Finale, in dem nicht alle Differenzen und Konflikte wegharmonisiert werden. (Text-Stand: 16.9.2016)