„Ich würd’ auch Angst kriegen, wenn ich mich treffen würde.“ Eva tickt anders als die Anderen. Ihre Sätze reichert sie mit unflätigen Ausdrücken an – „Laberfotze“, „Kinderficker“, Türken-Sau“ oder „Penispilz“ sind da noch die harmloseren. Die 17jährige Schulabbrecherin ist aber keine Asi-Göre. Sie leidet vielmehr unter dem Tourette-Syndrom, einem unkontrollierbaren Verhalten aus Schimpftiraden und Grimassen. In Stresssituationen kommt es einfach über sie – und doch steckt schon mitunter ein bisschen Wahrheit in diesen zwanghaften Sprüchen: Ein „Heil Hitler, du Geldsack!“ knallt sie beispielsweise einem Banker an den Kopf, der Evas gekündigten Vater hängen lässt und selbst über eine Million Euro Schwarzgeld bunkert. So richtig leidet sie gar nicht unter ihrem „Schluckauf im Kopf“ – ist sie doch im Schoße einer liebevollen Familie groß geworden, in der jeder einen an der Waffel hat. Außerdem hat sie die Natur, den Wald, den Teich, ihre Tiere, die über alles geliebten Molche. Doch diesem Idyll droht das Ende. Denn Papa hat einen neuen Job – in Berlin.
„Ein Tick anders“, der Titel trifft es doppelt gut. Denn der zweite Spielfilm des preisgekrönten Dokumentarfilmers Andi Rogenhagen („The Final Kick“) ist nicht nur eine im Tagebuch-Stil erzählte Farce über eine etwas andere Familie und ein Mädchen mit diesem besonderen Tic, sondern er ist auch ein schräges, unkonventionell erzähltes Alltagsmärchen, das Spaß macht, auch wenn oder vielleicht auch gerade weil es noch weniger als der Kinohit „vincent will meer“ ein ernsthafter Film zum Thema Tourette-Syndrom ist. Diese Komödie wirkt zwar zunächst sehr kurzatmig, entwickelt aber mit der Zeit einen sehr eigenen Rhythmus und entfaltet so eine besondere Poesie. Es ist einer jener Filme, die wie ein Song funktionieren. Jede Szene eine Strophe, immer wieder dieselben (Bild-)Motive. Und wiederholte Sätze wie “Ich muss zur Arbeit“ oder „Kannst du mich nicht ein Mal in Ruhe sterben lassen?!“ haben so etwas wie Refrain-Charakter in diesem Lied, das „Eine Familie verändert sich“ heißen könnte. Einen echten Song gibt es auch im Film: „Arschlicht“, ein Lied, mit dem Eva beim Song-Contest, der der Familie aus der finanziellen Misere helfen soll, nicht der große Durchbruch gelingt – das aber später für ihren „Versagerpimmelonkel“ ein Hit wird.
„Ein Tick anders“ ist eine charmante, kleine Kino-Koproduktion, 80 Minuten lang und großartig besetzt. Neben Waldemar Kobus, Victoria Trauttmansdorff, Stefan Kurt und Renate Delfs, allesamt köstlich trockenhumorig, schultert vor allem Jasna Fritzi Bauer (24), zuletzt in Kai Wessels Serien-Experiment „Zeit der Helden“ zu sehen, den Film mit schmalem Körper, spitzbübischem Lächeln und (ungewollt) scharfer Zunge. Wie die Absolventin der Schauspielschule „Ernst Busch“ den „Schluckauf im Kopf“ spielt, ist phänomenal. So etwas geht nicht ohne Ausbildung. Bleibt allein die Frage, ob „Ein Tick anders“ die Krankheit, das Krankheitsbild leichtfertig zu Unterhaltungszwecken „benutzt“. Der Gedanke kann einem kommen: Aber dann sieht man, wie das Tourette-Syndrom Teil der Selbstfindung der Heldin wird und dass jene Eva trotz ihres Handicaps eine starke, kämpferische Figur ist – und dann ist dieser Gedanke schon wieder vom Tisch. Außerdem ist überliefert, dass die Tourette-Betroffenen bei der Kinopremiere einen Riesenspaß hatten. (Text-Stand: 10.1.2014)