Henriette Sachs lebt allein und zurückgezogen in einer noblen, von den Eltern geerbten Altbauwohnung im beschaulichen Wiesbaden. Auch sonst scheint sie so gut wie alles von ihren alten Herrschaften übernommen zu haben: das muffige Interieur, die scheintoten Freunde, die Heimatlosigkeit. Es passiert nicht viel in ihrem Leben. Bis ihr eines Tages ein vermeintlich taubstummer junger Mann begegnet. Der hört ihr geduldig zu. Mehr erwartet Henriette anfangs nicht von ihm. Doch jener Felix kommt aus einer anderen Welt. Das Frankfurter Bahnhofsviertel ist sein Zuhause; hier lebt er mit seiner Freundin. Henriette hätte diesen Zuhörer, der ihr die Einsamkeit vertreibt, gern für sich allein. Und so macht sie sich auf nach Frankfurt, in der einen Tasche ein Bündel Geld, in der anderen ein Messer.
Henriette Sachs ist „Ein spätes Mädchen“ und die Merkwürdigkeit in Person. Sie ist Ballettlehrerin, sie kleidet sich altmodisch, streng, in dunklen Farben. Sie wirkt wie eine alte Jungfer, obwohl sie jung ist. Sie telefoniert nicht, schreibt lieber Briefe. Einen Komponisten, den sie einmal kurz gesprochen hat und den sie abgöttisch verehrt, bombardiert sie seit zwei Jahren mit ihren textlichen Ergüssen. Als das Objekt des krankhaften Begehrens ihr mit einer Unterlassungsklage droht, antwortet sie prompt: „Ich habe von Ihnen gehört – und dafür danke ich Ihnen.“ Hier versteht jemand nicht, wie das Leben, wie Beziehung funktioniert.
Die Rolle ist ein Kraftakt für die zierliche Fritzi Haberlandt, auf deren Schultern die gesamte Handlung lastet. Ihr Partner Matthias Schweighöfer spricht keine zehn Sätze in dem Film von Grimme-Preisträger Hendrik Handloegten. „Henriette ist eigentlich ruhig und in sich gekehrt“, betont Haberlandt, „als sie aber diesen vermeintlich stummen Mann kennenlernt, redet sie dann ununterbrochen.“ Als Theaterschauspielerin sind ihr längere Monologe nicht fremd, aber so viel zu sprechen in einem Film – das war Neuland für sie. Alles, was der Heldin durch den Kopf geht, jede Selbstverständlichkeit, wird ausgesprochen. Henriette hilft sich mit Sprache über ihre Unsicherheit hinweg. Sie redet sich ihre „welken Gedanken“ von der Seele.
Der zuhörende Zuschauer bekommt so einen Einblick in diese seltsame Figur. Das ist dramaturgisch glänzend durchdacht, in wunderbaren Dialogen und noch besseren Monologen geschrieben und in Bildern inszeniert, die mehr bedeuten als das, was sie zeigen. In diesem Sinne ist Handloegten, der nach seinem Leinwanderfolg „Liegen lernen“ mit zwei Klasse-Fernsehkrimis reüssierte, Kino-Qualität im Stil eines klassischen Autorenfilms gelungen.
Im Kern ist die Geschichte von dem späten Mädchen, für das sich das Leben in ihren nicht immer ganz gesunden Kopf abspielt, ernst und tragisch. Doch die Sätze, ehrlich und ebenso unbeholfen wie scheinbar wahllos dahingeplappert wie ein nach außen gerichteter innerer Monolog, bekommen durch die Steifheit und Unbedarftheit, mit der die höchst preisverdächtige Fritzi Haberlandt ihre seltsame Figur ausstattet, eine Lakonie und eine Trockenheit, die gelegentlich schmunzeln macht. (Text-Stand: 24.10.2007)