Philipp geht dem Leben aus dem Weg. Auf nichts hat sich der Mann, mittlerweile 30, bislang eingelassen. Er jobbt seit Jahren als Barkeeper, je netter eine Frau, umso wahrscheinlicher ist es, dass er sie abblitzen lässt. Seine Probleme hat ihm stets sein Vater aus dem Weg geräumt, mit seiner Post geht er noch heute zur Mutter. Hintergrund für diese gepflegte Sozialphobie: Philipp ist Analphabet. Als überraschend seine Tochter auftaucht, kommt Bewegung in sein eingefahrenes Leben. „Jetzt ist Lilly da und ich werde mich um sie kümmern“, äußert er sich trotzig gegenüber denen, die ihm das nicht zutrauen – und stellt einen Sorgerechtsantrag. Er gibt seinen Job in der Nacht-Bar auf und meldet sich stattdessen bei der Volkshochschule an. Denn die Jugendrichterin hat ihm klar gemacht, nur wenn er seine Legasthenie – wie er und seine Eltern seine Schwäche beschönigend nennen – aktiv angeht, habe er eine Chance, das Sorgerecht für Lilly zu bekommen, das auch die gut situierten Eltern der tödlich verunglückten Mutter der Kleinen beantragt haben. Doch der Kampf mit den Buchstaben ist ein Kampf, der an seinem Selbstwertgefühl nagt. Wird Philipp ihn durchstehen können?
Foto: BR / Julia Bauer
Einer, der sich bisher aus allem rausgehalten hat, beginnt sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, übernimmt zum ersten Mal Verantwortung für sich und einen anderen Menschen. „Dyslexie – Der Kampf mit den Buchstaben“ erzählt diese Geschichte auf dem Hintergrund einer psychischen Disposition, die den Selbstfindungsprozess stark beeinträchtigt. Der bessere Film wäre es wohl geworden, wenn sich Hans Ullrich Krause und Marc-Andreas Bochert allein auf die Vater-Tochter-Geschichte hätten konzentrieren können. Wenn Christoph Bach und Leyla-Meryem Parmakli gemeinsam im Bild sind, wenn das ungleiche Paar versucht, für einige Augenblicke die von beiden ersehnte Nähe herzustellen, besitzt der Film seine eindrucksvollsten Momente. In der Erzählweise nähert sich Regisseur Bochert in diesen Szenen der Ästhetik realistischer Arthaus-Filme an. Demgegenüber stehen Passagen, in denen „Dyslexie“ aussieht wie eine didaktische Handreichung für Betroffene & deren Angehörige. Auch wenn der VHS-Kurs für den Helden anfangs eine zu große seelische Herausforderung für sein angeknackstes Ego voller Versagensängste darstellt, so können diese Szenen auch als Identifikationshilfe gesehen werden und als Anleitung dafür, wie man’s richtig macht: „Ich dachte, ich komme auch so klar“, sagt eine schwangere junge Frau aus dem Kurs, die nun merkt, dass es nicht geht ohne Lesen und Schreiben. Den Betroffenen soll der Film Mut machen, die anderen soll er sensibilisieren für ein Phänomen, das in Deutschland verbreiteter ist als vielfach angenommen wird (laut Wikipedia: 5 bis 17% der Gesamtbevölkerung).
Foto: BR / Julia Bauer
Aus der pädagogischen Absicht heraus ergibt sich für „Dyslexie – Der Kampf mit den Buchstaben“ ein dramaturgisch interessanter Nebeneffekt. Die Hürden, die dem Helden von den Autoren in den Weg gestellt werden, sind die realen Hürden, die sich ein Analphabet immer wieder selbst aufbaut. Ausgangspunkt der Handlung ist die (sozial)psychologische Eigendynamik, die dieses Phänomen mit sich bringt. Und es ist am Ende der Buchstabe des Gesetzes, der das Kind einer der beiden Parteien zuspricht. Die Macher zeigen, dass beide Parteien sehr unterschiedlich sind (die Schwiegereltern Vollblutspießer, aber durchaus um das Kindeswohl bemüht, der Vater sympathisch unkonventionell und dennoch ernsthaft), aber sie werden nicht gegeneinander ausgespielt. Kein Schattenboxen, kein Sympathie-Antipathie-Clash, keine künstlichen Buhmänner, um möglicherweise die Spannung zu steigern.
So kommt der Film dem Zuschauer zwar mit einer etwas plakativen Botschaft und will im Großen der Erzählung allzu deutlich ein Beispiel geben, während er im Kleinen sensibel beobachtet und angenehm unprätentiös erzählt ist. Berücksichtigt man außerdem den Produktionskontext („Dyslexie“ ist nach „Empathie – Stumme Schreie“ und „Inklusion – gemeinsam anders“ ein weiterer Themenfilm von ARD Alpha, einst BR Alpha, dem öffentlich-rechtlichen Bildungs- & Wissenskanal), dann erfüllt dieser Film, der sich vor allem auch dafür anbietet, seinen Weg durch die Bildungseinrichtungen zu machen, erkennbar – auch ästhetisch – mehr als nur seinen Zweck. Treffend zeigt das die Schlussszene: „Soll ich dir was vorlesen?“, fragt die Tochter ihren Vater. Sie tut es – und animiert Philipp zum Mitlesen. Eine warme, intime Szene, gleichsam ein wenig absurd. Einer dieser schönen Momente zwischen den beiden, in denen das Thema die Poesie nicht (zer)stört. (Text-Stand: 13.8.2014)