Rudi Dutschke wurde nicht zuletzt durch die Tragik seiner Biographie zum Symbol der Achtundsechziger. In seinem Aufstieg zum Popstar des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und dem Attentat von 1968 spiegeln sich die Hoffnung einer Bewegung und zugleich ihr Scheitern. Für eine Medienwelt, die nach Helden und Metaphern sucht, ein „Glücksfall“. Stefan Krohmer und Daniel Nocke wollten sich aber weder begnügen mit dieser wohlfeilen Metaphorik, noch wollten sie Dutschke, der im März 70 Jahre geworden wäre, ein Denkmal setzen. Sie wollten nicht die „einzig wahre Lebensgeschichte“ des Studentenführers ermitteln. Es ging ihnen zwar um den Revoluzzer mit menschlichem Antlitz, um einen Mann, dessen Bedeutung sich nicht auf die Jahre 1966-68 beschränkt. Es ging ihnen aber auch um die verschiedenen Sichtweisen auf diesen umstrittenen, stark polarisierenden Zeitgenossen der westdeutschen Geschichte.
„Menschen erinnern sich unterschiedlich an die damalige Zeit, und die Unterschiede in den Erinnerungen erzählen mehr über die Menschen und die Zeit als die Behauptung einer einzigen Wahrheit durch die Filmemacher“, so Nocke. Entsprechend nähern sich die beiden Intellektuellen aus der „Generation Golf“ ihrem Gegenstand mit einer aufgeklärten Meta-Haltung. Dem Doku-Drama zugrunde liegen umfangreiche Vorrecherchen, die in mehr als 30 Stunden Interviewmaterial gipfelten. Erst auf der Basis dieser Interviews mit Wegbegleitern, Gretchen Dutschke, aber auch mit Politologe Wolfgang Kraushaar, Eberhard Diepgen oder Postmoderne-Publizist Claudius Seidl begann Daniel Nocke mit seiner Arbeit am Drehbuch für den fiktionalen Teil des Films. Nocke: „Die Interviews sollten nicht dazu dienen, die Spielszenen zu bestätigen oder sich selbst durch die Spielszenen bestätigen zu lassen.“
Krohmer und Nocke gelingt zum einen ein vielschichtiges Porträt: Da ist Dutschke, der religiöse Weltverbesserer, der tragische Held, der schnell reden und rennen konnte und dessen Sätze nicht enden wollten. Ein Mann mit religiösem Hintergrund, ein Kopfarbeiter, fleißig, bescheiden, monogam, fast bieder in seiner Lebensform. Er war „der gute Mensch“ für die einen, „ein Demagoge“ für die anderen. „Er hatte Humor, war selbstkritisch“, sagt die Filmemacherin Helga Reidemeister. Seidl indes, ein unheilbar an Ironie erkrankter 79er, empfand ihn immer als „verbissen ernst“. Was er für alle war, die ihn kannten: ein Getriebener, ein Atemloser in den 60er Jahren, „ein beschädigter Schlafwandler“ in den 70ern, als er versuchte, die linken Intellektuellen mit der Anti-AKW-Bewegung zu verkuppeln.
Die Filmemacher stellen historische Widersprüche heraus, sie kommen auf die Gewaltfrage zu sprechen und auf die unrühmliche Rolle der Springer-Presse. In den Interviews werden immer wieder Animositäten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Dutschkes konkurrierenden Weggefährten deutlich. Und auch die eigene Arbeit hinterfragen Krohmer und Nocke: Kann man Dutschke fiktionalisieren? Was gibt er her als Protagonist? Wenig, meinen einige der Interviewten. Doch genug für ein beeindruckendes Doku-Drama um einen charismatischen Rebellen und seine Zeit, eine Zeit, die für die Entwicklung der Bundesrepublik bedeutsamer ist, als uns viele heute glauben machen wollen. Die Erkenntnisse des Films stecken aber im Detail, in der Rhetorik der Interviewten, in Gesten, in Tränen, in Momenten der Selbstinszenierung. Sicher nimmt Krohmer Einfluss über die Montage. Aber letztlich maßt er sich weder die Deutungshoheit über das Phänomen Dutschke an, noch über seinen Film. Jedem Zuschauer werden andere Dinge auffallen in „Dutschke“ – und das macht ihn so reich. Achtundsechziger mögen das „ausgewogen„ finden; „diskursiv“ wäre der treffendere Begriff.