Bereits 2004 ist die Welt einer Gruppe enger Freunde, Anfang 30, schon nicht mehr in Ordnung. Harry (Johann von Bülow) wird unwissentlich von seiner Frau Julia (Luise Bähr) betrogen, ausgerechnet mit dessen bestem Kumpel Matthias (Özgür Karadeniz). Auch seine Frau Britta (Katrin Röver), deren Bruder Heiko (Tim Bergmann) sich noch nicht geoutet hat und noch mit Maren (Ursula Strauss) verheiratet ist, weiß nichts von der Affäre. Alle außer Maren verbringen Weihnachten 2004 in Khao Lak. Hier soll es ein Versöhnungstreffen zwischen Julia und ihrer Schwester Alexandra (Karoline Schuch) geben, die sich aus gutem Grund für ein Aussteigerleben in Thailand entschieden hat. Doch es gibt Ärger im Paradies. Die Schwestern bleiben unversöhnt, da der Tsunami, der am zweiten Weihnachtsfeiertag über Südostasien hereinbricht, Schicksal spielt: Julia kommt in den Fluten um, ihre Schwester und deren Tochter werden wenig später ebenfalls für Tod erklärt. Die vier anderen haben Glück, sogar Julias kleine Tochter kann gerettet werden. Mit 15 Jahren Verzögerung trifft nun der Rückstrom der Katastrophenwelle die Gruppe noch einmal und droht, wenn auch nicht das Leben, so doch die Existenzen aller Beteiligter von damals zu zerstören. Plötzlich steht Julias Schwester Alexandra vor der Tür – und anstatt sich zu freuen, macht sich pure Angst breit.
Foto: ZDF / Friederike Heß
Die Drama-Serie „Die zweite Welle“ erzählt von zwei Familien und zwei Ex-Partnern, von Freundschaften, deren Fundament eine kriminelle Lüge ist. Vor 15 Jahren haben alle be-schlossen, das Geschehene für immer unter den Teppich zu kehren. Seitdem leben Harry & Co in einer Art Blase gemeinsamer Schuld; Wohlstand und beruflicher Erfolg helfen über die seelischen Blessuren und eine lieblose Ehe hinweg. Leidtragende sind vor allem die Kinder: Harrys Tochter Noa (Meira Durand) und die Söhne von Britta und Matthias, Teenager Levin (Alessandro Schuster) und der jüngere Lenny (Jacob Speidel); das Mädchen beklagt eine Lücke in ihrem Leben, die Jungs spüren, dass ihre Eltern nicht ehrlich sind, weder zu ihnen, noch zu sich selbst. Die Blase zum Platzen bringen könnte Alexandra. Doch ihr scheinen die Drogen, ihre süchtige Freundin Sofia (Banafshe Hourmazdi) und der Traum von Portugal wichtiger zu sein als die Wahrheit. Trotzdem hält sie etwas davon ab, mit dem Geld, das ihr Harry gegeben hat, wie geplant das Weite zu suchen. Harry und Matthias registrieren das mit Entsetzen und scheinen eine radikale Lösung zu suchen, während Heiko und seine Schwester Britta sich versöhnlicher geben. Wozu aber ist diese unmögliche Person imstande, deren Blick so furchterregend sein kann? Will Alexandra Rache? Was weiß sie überhaupt?
Das, was Familiendrama-erfahrene Zuschauer bereits in der ersten Folge „Tsunami“ ahnen, erkennt die Heimkehrerin spätestens in der zweiten Folge „Das Geheimnis“, in der auch das Mysterium ihrer Überlebensgeschichte gelüftet wird: Die Post-Tsunami-Zeit beginnt mit einer Beinprothese und endet mit dreizehn Jahren im thailändischen Gefängnis. Diese Frau wird für die gutbürgerlichen Normalos immer beängstigender. Zu Recht: „Ich mach‘ die fertig. Ich stell’ sie bloß, einen nach dem anderen.“ Dieser Plan reift in Alexandra in „Untiefen“, der dritten Folge. Vor 15 Jahren war es noch ein Geschenk des Himmels, eine Anwältin und einen Arzt im Freundeskreis zu haben. Jetzt droht allen die Quittung. Und so zieht irgendwann Heiko, der hilfsbereite Arzt, eine (wohltuende?) Spritze auf, fuchtelt der völlig derangierte Harry mit einer Schusswaffe herum oder kühlt sich Maren mit einer erpresserischen Drohung gegen Alexandra vorübergehend ihr Mütchen. Doch das Opfer ist krisenresistent, listig, einfach unberechenbar. Die Lebenslügen in „Die zweite Welle“ gipfeln also im Genre des Psycho-Dramas, Thriller-Momente inklusive. Wenn die schmächtige Karoline Schuch als Alexandra aus der Rolle des versehrten Opfers zur gewaltbereiten Furie umswitcht, wirkt das besonders erschreckend, weil diese Frau ja auch eine zarte, verletzliche Seite zu haben scheint.
Foto: ZDF / Friederike Heß
Das ist möglicherweise der größte Reiz dieser packenden sechsmal 45minütigen Ensemble-Drama-Serie, die von Sarah Schnier („Mona kriegt ein Baby“, „Tatort – Das Leben nach dem Tod“) im Alleingang geschrieben wurde. Alle erwachsenen Charaktere werden psychologisch differenziert ausgeleuchtet. Je nach (Erzähl-)Perspektive erfährt deren Verhalten eine andere Wertung. Die Ereignisse 2004, als Fakt ein schweres Vergehen, werden relativiert durch die Rückblenden, in denen unmittelbar der psychische Ausnahmezustand spürbar wird. Zu was sich einige Charaktere 2019 hinreißen lassen könnten, besitzt eine ganz andere kriminelle Energie: Dieser völlige Verlust eines moralischen Kompasses resultiert allerdings aus dem Genre und der dramatischen Fallhöhe und weniger aus einer Psychologie, die am echten Leben ausgerichtet ist. Bei alldem interessiert besonders aber, was diese Figuren-Ambivalenz für den Zuschauer bedeutet: Der muss immer wieder seine Sympathien und Antipathien neu überdenken. Gerade noch wünscht man dem selbstgerechten Harry nur das Schlimmste, dann wieder fühlt man mit ihm, versteht sein Handeln, weil man den Schmerz dahinter erkennt. Komplexer ist die Zuschauer-Beziehung zur weiblichen Hauptfigur: Einerseits möchte man, dass sie ihr Recht bekommt, andererseits stößt sie alle anderen immer wieder so rücksichtslos vor den Kopf, dass selbst das relativierende Wissen um die Knast-Erfahrung einen nur schwer warm werden lässt mit der Figur. Und das ist gut, weil es zur dramaturgischen Besonderheit dieser Serie gehört, dass sie spannend ist, ohne klassische Identifikationsmuster zu bedienen.
Foto: ZDF / Friederike Heß
Ein weiterer Pluspunkt, die Wirkkraft betreffend: Das Personal ist überschaubar, das Beziehungsnetz entsprechend dicht geknüpft, und die Abhängigkeiten untereinander sorgen für dynamische (Sub-)Plots. Dem entspricht eine horizontale Dramaturgie, in der stets mehrere Szenen parallel erzählt und effektiv miteinander verschnitten werden. Dadurch entsteht ein guter, geradezu soghafter Serien-Flow, der allerdings den Regisseur:innen André Erkau („Auf einmal war es Liebe“) und Friederike Heß, zugleich Kamerafrau der Serie, wenig Raum lässt für filmisch-atmosphärisches Erzählen und der gelegentlich künstlich aufgepeppt wird: ein Mal dient ein Brand als Cliffhanger, ein anderes Mal wird die lebensbedrohliche Wasserphobie von der durch Khao Lak traumatisierten Noa allzu lang und stereotyp ausgespielt. Und so geht es – im Gegensatz zu vergleichbaren US-Serien wie „Big Little Lies“ oder „Little Fire Everywhere – weniger in die Tiefe der Charaktere. Selten sind Figuren allein mit sich, es gibt wenig Möglichkeiten zur Selbstreflexion, immer gehen alle in die Interaktion, in Rede und Gegenrede, und es endet in Irritation und Chaos. Die Fähigkeit zur Sühne scheinen sich allein die Geschwister Britta und Heiko bewahrt zu haben. Am Ende sind Heiko und seine geschiedene Frau Maren die, die noch ein klein bisschen Hoffnungspotenzial besitzen unter all den Verdrängungskünstlern am Rande des Nervenzusammenbruchs. Für die anderen verkommt Freundschaft zu einem System unbedingter Hilfe und Loyalität, welches die Werte des Einzelnen missachtet: mehr ökonomischer Tauschhandel als Liebe. Wer hier aus der Reihe tanzt, ist schnell als „undankbares Miststück“ verschrien.
Und wer so bedrohlich aus der Reihe tanzt wie die böse Heimkehrerin ist ein Fremdkörper in der westlichen Wohlstandsgesellschaft, der wegmuss. Völlig verunsichert werden die, die’s geschafft haben, wenn sie mit einer sozialen Wirklichkeit konfrontiert werden, der sie sich für gewöhnlich nicht aussetzen müssen. Entsprechend hilflos und weltfremd ihre Lösungsversuche. Und auch wenn ein geringes Selbstwertgefühl der „Heldin“ aufgrund ihrer Rabenmutter (mit ihr gibt es zwei beindruckende Szenen) und entgegen ihres forschen Auftretens tief in ihr verankert ist, so ist sie mit ihrem Instinkt eines Straßenköters den anderen überlegen. Es fragt sich, ob es da in der Biographie der Ungeliebten noch einer zusätzlichen traumatischen Teenager-Erfahrung bedurfte. Diese erfüllt allein die Funktion, Alexandra angreifbar und erpressbar zu machen. Eine weitere dramaturgische Krücke ist ihre Freundin Sofia, durch deren Anwesenheit Alexandra die Möglichkeit gegeben wird, Befindlichkeiten, Motivationen und Pläne auszusprechen. Eine Schauspielerin vom Format von Karoline Schuh hätte das auch nonverbal in Solo-Szenen gemeistert. Dadurch wäre diese Figur möglicherweise noch ein bisschen geheimnisvoller und undurchschaubarer geworden. Dem Genre-Aspekt und vor allem der filmischen Qualität dieser Parabel hätte das nur gut getan.