Ob es im Wald auch Wölfe gebe, will Enkelin Lisbeth wissen. Nein, behauptet Anna Notrup (Martina Gedeck), obwohl ihr bereits auf dem Weg zum Schwarzwald-Kaff ein Wolf begegnet ist. Nun wird die kleine Lisbeth im Fernsehfilm „Die Verteidigerin – Der Gesang des Raben“ weder vom Wolf noch vom Raben, dem Kinderschreck im „Hoppe-hoppe-Reiter“-Lied, gefressen. Aber an mythologischer Symbolik mangelt es im Fernsehfilm-Debüt von Mara Eibl-Eibesfeldt („Im Spinnwebhaus“) nicht. Einmal flattert tatsächlich ein „Unglücksrabe“ durchs Fenster ins Hotelzimmer der Anwältin, wirft ein Rotweinglas um und hinterlässt hässliche, blutrote Flecken auf den Akten. Solche Szenen greifen auf uralte Geschichten und Märchen zurück, auf Bilder, die durch generationenübergreifende Erzählungen tief verankert sind. Etwas abgedroschen, aber wirksam. Und an einem Ort wie dem an Sagen und Märchen reichen Schwarzwald auch nicht fehl am Platz.
Anna Notrup will die Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens gegen Samuel Brunner (Gustav Schmidt) erwirken, der seit fünfeinhalb Jahren hinter Gittern sitzt. Während ein Auto aus einem See gezogen wird, hört man aus dem Off das Geständnis des jungen Bauern. Er habe seinem Opfer einen Stuhl immer wieder auf den Kopf gedroschen, den Toten dann im Keller zerkleinert, den Kopf ausgekocht und alles an die Schweine verfüttert. „Die haben sich gefreut.“ Doch der vermeintlich blutrünstige Schweinebauer, der Markus Schwarz, den Vater seiner Freundin Katharina (Vanessa Loibl), restlos beseitigt haben will, muss gelogen haben, denn Schwarz‘ Leiche befand sich unzerteilt in dem im See versenkten Fahrzeug. Aber ist Brunner auch unschuldig? Bei ihrem ersten Gespräch im Gefängnis stellt Anwältin Notrup dem jungen Mann eine mögliche, saftige Haft-Entschädigung in Aussicht, sagt aber auch, dass der Fund der Leiche nicht ausreiche, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Samuel Brunner selbst ist keine große Hilfe. Er ist misstrauisch, aggressiv, wirkt wie einer, der sich in seinem Unglück eingemauert hat.
Notrup fährt also in den Ort, in dem das Verbrechen begangen worden sein soll. Willkommen ist sie nicht. Die atmosphärische Basis legt Eibl-Eibesfeldt mit „Avalanche“ und der tiefen Stimme von Leonhard Cohen, die die Fahrt der Anwältin durch den Schwarzwald begleitet. Das passt auch zu der einsamen, etwas schäbigen Tankstelle am Wegesrand, die an den Mittleren Westen der USA denken ließe, wäre die Landschaft nicht eine ganz andere. Im Ort wird die Anwältin von argwöhnischen Blicken der Gastwirtin (Therese Hämer) empfangen. An Brunners verfallenem Hof prangt noch die Aufschrift „Mörder“. Ein Nachbar erklärt: „Der sitzt zurecht.“ Dorf-Sheriff Clemens Neumann (Jörg Witte) liefert erste Hintergrund-Informationen, gibt sich aber seltsam unbeteiligt, wenn man bedenkt, dass das Ereignis die Dorfgemeinschaft erschüttert haben muss. Allerdings ist die Zeit nicht stehen geblieben. Katharina Schwarz, die Tochter des Mordopfers, reagiert ebenfalls abweisend, als sie von Anna Notrup auf dem Spielplatz angesprochen wird. Der Vater ihrer kleinen Tochter ist der inhaftierte Samuel, doch mittlerweile hat Katharina einen neuen Partner und scheint nicht so erfreut über die Aussicht, dass ihr Ex bald frei kommen könnte.
Die Anwältin begegnet all dem mit stoischer Ruhe, Selbstbewusstsein und einer unbeirrbaren Freundlichkeit. Martina Gedecks souveränes, gelassenes Spiel ist ein erfrischender Kontrast in einem Film voller düsterer Anspielungen. „Passen Sie auf sich auf“, raunt der Anwalt, der Brunner im Prozess vertreten hatte. „Verpiss dich“, wird mit roter Farbe an Notrups Auto gesprüht, doch die Anwältin bleibt unbeeindruckt. Sie lädt sogar Sohn Max (Lukas Turtur) und Enkelin Lisbeth (Katharina Weitzendorf), mit denen sie eigentlich in Urlaub fahren wollte, in den Ort ein. Eine etwas ungewöhnliche, naiv anmutende Idee, die aber für zusätzliche Spannung sorgt. Prompt verschwindet Lisbeth und versagen die Bremsen. An Notrups Entschlossenheit, die Wahrheit herauszufinden, ändern jedoch weder anonyme Attacken noch Samuel Brunners problematisches Verhalten etwas. Die interessante Figur und Gedecks unprätentiöses Spiel hätten jedenfalls das Potenzial für eine neue TV-Reihe.
Anna Notrup ermittelt wie eine Detektivin, argumentiert juristisch und ist zugleich Ratgeberin für ihren Mandanten. Dabei wird nicht wie in konventionellen Polizeifilmen jedes Ermittlungsdetail im Team diskutiert und erläutert. Es bleibt Raum für Ungesagtes, Atmosphäre ist ebenso wichtig wie die Auflösung des Mord-Rätsels. Dabei spielen natürlich auch die Landschaftsbilder eine große Rolle. Kameramann Holly Fink bietet nicht nur den sprichwörtlich finsteren Märchenwald auf. Manchmal schweift der Blick auch in die Ferne und zeigt die Schönheit des Mittelgebirgs-Panoramas. Aber die Kulissen zeugen von einem engen, einfachen Leben abseits des turbulenten Weltgeschehens. Die junge Polizistin Maja Jung (Deniz Orta) pendelt lieber täglich von Freiburg, statt in der für sie bereitgestellten Wohnung im Ort zu wohnen. Die ebenfalls Fremde bemüht sich als Einzige, der Anwältin bei der Aufklärung des Falls zu helfen. Was der Film leider trotz seiner juristisch ausgebildeten Hauptfigur am allerwenigsten ist: ein packendes Justizdrama. Die Gerichtsszenen am Ende sind betont nüchtern, beinahe protokollarisch gehalten, was allerdings nicht unbedingt authentisch, sondern eher staubtrocken wirkt. (Text-Stand: 30.12.2022)