Vor zehn Jahren verschwand die damals 16-jährige Isa von Gems (Henriette Confurius) nach einer Schulparty spurlos. Einige ihr nahestehende Menschen hatten an diesem Abend noch Kontakt mit ihr: Robert (Max von der Groeben), ihr neuer Freund, dessen Vater, der Polizist Peter Wolff (Götz Schubert), und ihre beste Freundin Jenny (Nina Gummich). Aber auch Isas Mutter (Claudia Michelsen) und ihr Bruder Philip (Rick Okon) schauten kurz auf dem Fest vorbei, in der Hoffnung, der überdrehte Teenager würde mit ihnen nach Hause fahren. Denn dort lag der Großvater im Sterben. An seiner Seite Heinrich von Gems (Christian Berkel) und seine Mutter Lore (Hildegard Schmahl). Doch Isa weigerte sich, das Fest zu verlassen. Wenige Stunden später verläuft sich ihre Spur. Sie könnte von einem Auto angefahren worden sein. Vielleicht hat man sie entführt, verschleppt oder sogar ermordet. Oder hat sie ihrer Familie freiwillig den Rücken gekehrt? Wollte sie der verkrusteten Tradition ihres Adelsgeschlechts und deren Bier-Dynastie entkommen? Antworten gab es keine, zehn Jahre lang. Jetzt ist die verlorene Tochter zurück. Aber sie ist nicht die alte. Sie sagt, sie könne sich nicht erinnern, sie habe keinerlei Vorstellung von ihren ersten 16 Lebensjahren. So richtig glauben will ihr das weder die Familie noch die Menschen in Lotheim. Der hessische Ort ist überschaubar. Und so spürt jeder die Unruhe, später die Angst, die die Heimkehr jener schönen Tochter aus besserem Hause in jener Kleinstadt nahe des Edersees verursacht. Alle hatten sich auf eine andere Art mit dem Verschwinden der jungen Frau abgefunden. Pragmatismus, Verdrängung und die Flucht in Familie und Firma waren die Antworten auf den Verlust. Jetzt besteht die Gefahr, dass die letzten zehn Jahre als Lebenslüge verbucht werden müssen. Oder die Gefahr, dass eine alte Schuld und vergessene Vergehen ans Tageslicht kommen.
In der ZDF-Serie „Die verlorene Tochter“ wird die Heimkehr zur Wiederkehr beinahe vergessener Ereignisse und verdrängter Empfindungen. Nicht nur die Tochter steht vor einer bitteren Wahrheitssuche, der sie vorerst nur mit Tabletten begegnen kann. Auch die Familie treiben bange Fragen um. Die Mutter muss befürchten, dass ihre einstige Affäre mit Wolff nun doch noch auffliegt; denn Isa hatte die beiden in jener Nacht in flagranti erwischt. Der egoistische Vater hatte seine aufmüpfige Tochter ja schon erfolgreich aus seinem Gedächtnis gestrichen. Geblieben waren schöne Erinnerungen an Papis Liebling aus Kindertagen. Durch Isas Amnesie und ihre neue Identität scheint dieses verklärte Bild der Tochter in Gefahr. Noch handfester sind die Befürchtungen bei ihren Altersgenossen: Philip, der die Brauerei am liebsten verkaufen würde, fürchtet seine unberechenbare Schwester, die nun Mitteilhaberin ist, ihrem Ex Robert könnte die Schöne seine Ehe kosten, und ihre einstige Busenfreundin, die sich nach Isas Verschwinden Robert gekrallt hat, fürchtet eben genau das. Allein Peter Wolff, der sich so sehr in den Fall verbissen hatte, dass ihm das seine Ehe, seine Karriere bei der Polizei und seine Gesundheit gekostet haben, hofft nun auf die lückenlose Aufklärung von Isas Verschwinden und wenigstens auf eine kleine persönliche Genugtuung. Und dann gibt es offenbar noch Menschen in Lotheim, die die Gegenwart der Germs-Tochter mehr als nur nervös macht. Die Drohung am Telefon ist deutlich: „Hau ab, Du wirst es sonst nicht überleben!“, heißt es am Ende der dritten Folge („Lügen“), nachdem die Heldin bereits am Ende der ersten Folge („Geister“), beinahe in den Flammen eines Feuers umgekommen wäre.
Trotz einiger Bedrohungssituationen, in denen man als Zuschauer mit der Hauptfigur mitfiebert, bleibt „Die verlorene Tochter“ ein Drama, spannend zwar und mit kriminalistischen Nebenhandlungen ausgestattet, aber die Serie sucht nicht den Weg in den Thriller. Die sechs Mal 45 Minuten verkommen in keiner Sekunde zur Räuberpistole, was man von den ZDF-Krimi-Dramen ja nicht immer behaupten kann. Autor Christian Jeltsch erzählt hier von einer „großartigen Familie“, die außer ihrer Tradition nicht mehr viel Großartiges zu bieten hat: der Sohn ein Intrigant, Erpresser und Voyeur, die Mutter eine domestizierte „Ehebrecherin“, hin und hergerissen zwischen Schuldgefühlen und Freiheitsdrang, zwischen Ehearrangement und narzisstischen Fluchten, der Vater schicksalsergeben, ohne eine starke Frau als Unterstützerin verloren und anfangs seiner „neuen“ Tochter gegenüber extrem abweisend. Und da ist die Großmutter, die die heimgekehrte Isa zwar mit einem offenen Lächeln begrüßt, dahinter aber auch weniger freundliche Wesenszüge verbirgt. Familie ist in dieser Geschichte auch außerhalb der Ursprungsfamilie kein Sehnsuchtsort. Und Liebe ist ein Konstrukt, mit dem die Menschen allenfalls ihrer Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit begegnen. Peter Wolffs Ehe ist gescheitert, die seines Sohnes hat ihren Ursprung in jener verhängnisvollen Nacht vor zehn Jahren und diese Ehe droht entsprechend, auch kaputt zu gehen, und Isas Bruder konnte mit Hilfe seiner dominanten amerikanischen Ehefrau (Emily Cox) der Drogensucht entkommen. Jede Beziehung leidet unter einem ungleichen Kräfteverhältnis. Immer gibt es einen, der gerettet werden will, und meist findet sich auch einer, der sich darum reißt, die Retter-Rolle zu übernehmen. Diese gestörten Beziehungsmuster liegen vornehmlich unter der Oberfläche der Handlung und bilden so einen stimmigen Subtext ohne moralischen Zeigefinger. Hinzu kommt ein weiterer Störfaktor für wahre Gefühle: Geld. Immerhin: „Am Ende der Geschichte ist die schmerzhafte Wahrheit enthüllt und bietet die Chance zu gesunden“, betont Jeltsch.
Für die Dynamik der Erzählung und den Spannungs-Flow des Films maßgeblich entscheidend sind die Hauptfigur, ihr Geheimnis und ihre Darstellerin, Henriette Confurius („Die geliebten Schwestern“). Nach der Exposition, in der alle Charaktere und ihre Haltung zu der vor zehn Jahren Verschwundenen umrissen werden, ist es das tragische Schicksal dieser jungen Frau, das einen als Zuschauer berührt. Anders als in einem 90-Minüter, in dem das Motiv Amnesie meist als dramaturgisches Vehikel eingesetzt wird, führen Jeltsch, Confurius und Regisseur Kai Wessel einem hier deutlich vor Augen, was es heißt, sich nicht mehr erinnern zu können. Es ist nicht nur eine Lebensphase ausgelöscht, es fehlt auch der Lebensweg zum Hier und Jetzt, was nicht nur dramatische Leere, sondern auch permanentes Misstrauen erzeugt. Die anderen können einem viel erzählen. Und das, was sie hier sieht, entspricht ohnehin nicht dem, was sie in den letzten zehn Jahren an Nähe und Liebe erfahren hat. „Wer bin ich, wer war ich, wo komme ich her und: Was ist geschehen“, bringt Wessel die Zerrissenheit der „Heldin“ ebenso knackig wie wahrhaftig auf den Punkt. Und im Kopf kann da so einiges durcheinandergeraten. Confurius spielt diese Verwirrung angenehm reduziert, während die Anflüge einer Schizophrenie filmisch mit eingebildeten Stimmen angedeutet werden.
Ab der zweiten Folge („Zweifel“) konfrontiert Jeltsch die heute 26-Jährige mit ihrem jugendlichen Alter Ego. Und das rät ihr: „Besser du verschwindest wieder. Du wirst nur alle unglücklich machen – vor allem dich selbst.“ Die 16-jährige Isa weiß, was Sache ist. Da sie aber aus dem Bewusstsein der Isa ohne Erinnerung kommt, bewegt sich anfangs alles im Bereich der Ahnungen und Mutmaßungen. Die mehrfache Visualisierung der zwei Seelen in einer Brust gehört zu den markantesten Szenen des Films. Isa von Gems ist also nicht nur die verunsicherte, bemitleidenswerte Sucherin nach der verlorenen Identität, sondern gleichsam ein Teenie-Wildfang, der seine Anziehungskraft auf das andere Geschlecht auszutesten beginnt. Die Schauspielerin verkörpert beide „Rollen“ sehr überzeugend, und sie verleiht mit ihren klaren Gesichtszügen beiden Frauen-Typen, der authentischen mit ihrer angeknacksten Psyche und dem gut gelaunten, etwas frivolen Girlie, eine große ikonografische Kraft. Ganz besonders wird ihr Gesicht in Erinnerung bleiben als das der „Verlorenen Tochter“ – ein im Übrigen zutiefst stimmiger Filmtitel: Für die anderen ist sie die verlorene Tochter. Und für sich selbst: die Verlorene. Und das nicht nur, weil sie nicht weiß, wer sie ist, sondern auch, weil sie gegenüber der, die sie offenbar gewesen ist mit 16 Jahren, heute Vorbehalte hat.
Filmisch genügt diese Mini-Serie allerhöchsten Ansprüchen. Die Bildgestaltung von Alexander Fischerkoesen ist exquisit, Szenenbild und Locations besitzen eine große narrative Kraft, und der Score wird sparsam verwendet und schiebt sich nie zu deutlich in den Vordergrund. Die Vermittlung der Emotionen überlässt Wessel lieber den Schauspielern. Und denen kann der Regisseur problemlos vertrauen. Mit Claudia Michelsen, Götz Schuberth, Christian Berkel, Rick Okon, Max von der Groeben, Nina Gummich und Hildegard Schmahl standen ihm auch bei den weiteren tragenden Figuren die Créme de la Créme dreier Schauspielergenerationen zur Verfügung. Dass „Die verlorene Tochter“ als Serie und nicht als Dreiteiler produziert wurde, mag für die Ausstrahlung im ZDF (jeweils zwei 45-Minüter hintereinander ) mit seinem weniger serienaffinen Primetime-Fiction-Publikum eher problematisch sein, und es ist sicher auch schade, dass die Produktion dadurch kein Tagestipp in den Programmzeitschriften wird. Für die weitere Vermarktung oder auch für die ZDF-Mediathek aber ist dies rezeptionspraktisch eher von Vorteil. Und dramaturgisch bietet das 45-Minuten-Format eine bessere Möglichkeit als ein 90-Minüter, einen so vielschichtigen Stoff „sinnvoll“ zu strukturieren – und ihn damit auch leichter goutierbar zu machen. In diesem Fall sind die sechs Folgen besonders günstig, da sich Jeltsch für die Einstiege einen besonderen Clou ausgedacht hat: Jede Folge beginnt vor dem Titelvorspann mit jenem unglückseligen Schulfest. Duffy und Black Eyed Peas bitten zum Tanz. Dann sehen wir Situationen jener geheimnisträchtigen Nacht aus unterschiedlichen Perspektiven. So bekommt der Zuschauer von Folge zu Folge erst eine Ahnung, dann einen immer besseren Überblick über die tatsächlichen Ereignisse. Am Ende entpuppt sich des Rätsels Lösung dann doch etwas anders als zwischenzeitlich angenommen. Es bleibt also aufregend bis zum Schluss. Und es gibt Täter, Mitschuldige, mehrere Opfer und eine Heldin, der nicht nur alle Sympathien (auch des Zuschauers) zufliegen, sondern die Jeltsch mit einer hoch attraktiven Ambivalenz versehen hat. Sogar eine kleine (durchaus einmal notwendige) Relativierung der #Metoo-Kampagne leistet sich der Grimme-Preisträger. (Text-Stand: 27.12.2019)