Jedes Kind kennt die Geschichte der „Titanic“, die im April 1912 auf dem Weg nach Amerika mit einem Eisberg kollidiert und gesunken ist; gut 1.500 Personen sind damals im eiskalten Wasser gestorben. Vermutlich glauben die meisten Menschen, dies sei das größte Schiffs-Unglück der Geschichte. Was für ein Irrtum: 33 Jahre später, in den Abendstunden des 30. Januar, gab es sechs mal so viele Tote, als die „Wilhelm Gustloff“ in der Ostsee von Torpedos der Sowjets getroffen wurde. Das Vergnügungsschiff war vom damals ostpreußischen Gotenhafen (bis 1933 Gdingen, heute Gdynia) nach Kiel unterwegs. An Bord befanden sich rund 10.000 Passagiere, überwiegend Frauen und Kinder, die vor der anrückenden Roten Armee evakuiert wurden. In jener Nacht sind mehr als 9.000 Menschen ertrunken.
Natürlich hat es einen Grund, warum heute kaum jemand das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“ kennt. Im Gegensatz zu Hollywood, das auch die Schattenseiten der amerikanischen Geschichte längst aus allen möglichen Blickwinkeln beleuchtet hat, galt es hierzulande Jahrzehnte lang als verpönt, Deutsche in Filmen über den Zweiten Weltkrieg als Opfer zu zeigen. Diese Rolle war Jenen vorbehalten, deren Leiden und Tod das Nazi-Regime unmittelbar zu verantworten hatte. Mittlerweile hat sich die Haltung gewandelt. Jüngere Generationen gehen ungleich unbefangener mit dem Thema um. Niemand muss mehr den Verdacht des Revanchismus’ ausräumen. Mit dem ZDF-Fernsehfilm „Dresden“ (2006) wechselte zum ersten Mal seit den Fünfzigerjahren eine Großproduktion die Perspektive. Die Bilder der strategisch bedeutungslosen Bombardierung Dresdens und des anschließenden Infernos waren keine Anklage gegen die Briten, sondern gegen die Sinnlosigkeit des Krieges. Der zweiteilige Film kostete die bis dahin unerhörte Summe von 10 Millionen Euro, doch die Resonanz war mit 12 Millionen Zuschauern gleichfalls enorm. Im vergangenen Jahr sorgte die ARD für ähnliche Zahlen. Auch in dem Zweiteiler „Die Flucht“ fliehen die Menschen vor der Roten Armee, diesmal über das zugefrorene Haff. Der Film kostete 9,5 Millionen Euro und hatte über 10 Millionen Zuschauer. Natürlich hofft das ZDF, mit der Dramatisierung des Untergangs der „Gustloff“ den Erfolg dieser Filme zu wiederholen. Am Budget sollte es nicht scheitern: Mit bis zu 12 Millionen Euro setzt die Produktion neue Maßstäbe.
Die Hoffnung auf eine herausragende Einschaltquote schließt ehrenwerte Motive natürlich nicht aus; vor allem, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender das Angenehme (viel Publikum) mit dem Nützlichen (Erfüllung seines Auftrags zur Bildung, Information und Unterhaltung) verbinden kann. Fernsehen, sagt ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut im Zusammenhang mit dem „Gustloff“-Zweiteiler, kann „Menschen ansprechen, die sich zunächst nicht für historische Themen interessieren. Deshalb gehört es zu unseren Aufgaben, Geschichte nicht nur wahrhaftig, sondern auch spannend, eindringlich und emotional bewegend zu erzählen“. Ein wesentliches Attribut fehlt in Belluts Aufzählung allerdings: Filme wie „Die Gustloff“, „Die Flucht“ oder „Dresden“ erzählen ihre Geschichten vor allem aufwändig. Deshalb kann es durchaus vorkommen, dass man während der Rezeption eher beeindruckt als ergriffen ist. Die Produktionen sind stets gespickt mit Stars, die sorgfältige Ausstattung ist vermutlich authentischer, als es die Wirklichkeit je war, und die Spezialeffekte sind derart imposant, dass sie auch und gerade auf einer Kinoleinwand funktionieren würden.
Für den Erfolg aber ist dies zunächst zweitrangig: Wenn es den Sendern nicht gelingt, einen „Einschaltimpuls“ zu schaffen, kann ein Film noch so gut sein; er wird stets bloß eine überschaubare Anzahl an Zuschauern erreichen. Ausgeklügelte und kostspielige Kampagnen, die meist schon während der Dreharbeiten beginnen, sollen daher dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen auf den Termin aufmerksam werden. Es muss ein „Event“ kreiert werden: Der Film soll schon Gesprächsthema sein, bevor er ausgestrahlt wird. Kernpunkte der jeweiligen Kampagne stellen deshalb die Einzigartigkeit eines Stoffes heraus: die Bombardierung Dresdens, die Flucht über das zugefrorene Haff, das größte Schiffsunglück der Seefahrtsgeschichte. Und weil eine gewisse Emotionalisierung nicht schaden kann, wird die Katastrophe vorübergehend zur aufwändigen Kulisse einer Liebesgeschichte.
Auch Rainer Berg, Autor des Kriegsdramas „Die Gustloff“, nutzt die Weltgeschichte zwischenzeitlich als Hintergrund für eine Romanze: Im Zentrum der Handlung steht der wackere zivile Kapitän (Kai Wiesinger) der „Gustloff“, der sich in Marinehelferin Erika (Valerie Niehaus) verliebt hat und sie um jeden Preis an Bord holen will. Fortan haben alle Uniformierten offenbar nur eins im Sinn: die Liebenden auseinander zu bringen. Besonders engagiert zeigt sich der Bruder (Heiner Lauterbach) des Kapitäns, ein ehemaliger U-Boot-Führer, der Erika für eine Saboteurin hält. Womöglich haben die Verantwortlichen (Regie: Joseph Vilsmaier, Produzent für die UFA: Norbert Sauer) sogar kurz darüber nachgedacht, ob sich nicht beide Brüder in dieselbe Frau verlieben könnten. Der Film ist aber auch so ein durchaus packendes Werk geworden, selbst wenn er – wie fast alle Mehrteiler – zwischendurch an Spannung verliert. Die Besetzung ist namhaft, die Schauwerte sind enorm, und politisch korrekt geht es auch zu: Die Schurken sind Deutsche. (Text-Stand: 2.3.2008)