Aus Sicht der Zielgruppe ist es unerheblich, wie werkgetreu die Verfilmung eines ohnehin kaum bekannten Märchens ausgefallen ist. Deshalb werden sich vermutlich nur wenige Menschen wundern, dass „Die Gänseprinzessin“ auf der Grimm-Geschichte „Die Gänsehirtin am Brunnen“ basiert. Bis auf die Gänse gibt es keinerlei Parallelen; hätte die ARD den Zusatz „Nach Motiven…“ weggelassen, wäre mutmaßlich niemand auf die Idee gekommen, einen Plagiatsvorwurf zu wittern. Eine Verwandtschaft mit der Defa-Produktion „Die Geschichte von der Gänseprinzessin und ihrem treuen Pferd Falada“ (1989) liegt ebenfalls nicht vor, zumal dieser Film auf dem Grimm’schen Märchen „Die Gänsemagd“ beruht.
Heldin des 54. ARD-Märchens ist die Königstochter Apollonia, die in der heutigen Zeit vermutlich Entertainerin wäre: Sie ist ein unerschöpflicher Quell an Witzen und Scherzfragen und würde am liebsten den ganzen Tag singen und tanzen. In Pollys Welt sind diese Talente allerdings nicht gefragt, denn ihr Vater, König Klaus (Johann von Bülow), hat eine Staatstrauer verordnet, seit Prinz Nepomuk spurlos verschwunden ist. Als sich dieser Tag zum vierten Mal jährt, hält Polly die erzwungene allgemeine Betrübnis nicht mehr aus, bringt den gesamten Hofstaat bei der Gedenkfeier mit einem Furzkissen zum Lachen, tut es anschließend ihrem Bruder gleich und lässt die „Trauergeiselhaft“ hinter sich. Der König wiederum ergibt sich nun endgültig seiner Schwermut, erlässt das Gebot, alle Kinder, die bei öffentlichem Lachen erwischt werden, einzukerkern, und überlässt die Regierungsgeschäfte fortan der Gattin (Regula Grauwiller). Parallel zu diesen Ereignissen macht der Film immer wieder Stippvisiten im Dasein eines jungen Mannes (Jascha Baum), der sich Leif nennt, offenkundig das Abenteuer liebt und es nie lange an einem Ort aushält. Als ihm ein asiatischer Kaiser die Hand seiner schönen Tochter anbietet, sucht Leif umgehend das Weite; sein Freiheitsdrang ist mit den Pflichten eines Thronfolgers nicht in Einklang zu bringen.
Das erfahrene Drehbuchduo Katrin Milhahn und Antonia Rothe-Liermann haut zwar nicht gerade einen Gag nach dem anderen raus, aber spätestens das schon vor der Feierlichkeit ausprobierte Furzkissen wird zumindest dem jüngeren Teil des Publikum großen Spaß machen. Davon abgesehen ist Pollys „Das Leben geht weiter“-Haltung sehr nachvollziehbar erzählt: Selbstverständlich vermisst auch sie ihren geliebten Bruder, aber sie schafft es einfach nicht, ihre heitere Energie im Zaum zu halten. Nach der Flucht aus dem Schloss hütet sie die Gänse einer rätselhaften alten Frau (Leslie Malton), die im Wald lebt und über Zauberkräfte verfügt. Dass lange offen bleibt, ob die namenlose Alte gut oder böse ist, sorgt immerhin für ein bisschen Spannung. Eines Tages rettet sie zwei schmucke junge Männer vor den Häschern des Königs: Der eine, Hagen (Zoran Pingel), ist ein verhafteter Spaßrevoluzzer, der andere ist Leif, der ihn befreit hat. Der Abenteurer und die vermeintliche Gänsemagd tauschen wie in einer romantischen Komödie ein paar Gemeinheiten aus, aber zu einer „verbotenen Liebe“ kommt es nicht. Erwachsene werden sich ohnehin fragen, warum Polly, die nun wahrlich kein Kind mehr ist, ihren Bruder nicht erkennt. Als sich die Missverständnisse aufklären und die beiden einander um den Hals fallen, nehmen die Dinge ihren Lauf in Richtung des erwartbaren Happy Ends, das immerhin eine Überraschung mit sich bringt.
Anders als bei den Weihnachtsmärchen des ZDF, denen bis vor einigen Jahren angesichts einer Dauer von neunzig Minuten schon mal die Handlung ausging, lag bei den einstündigen ARD-Adaptionen die Würze stets auch in der Kürze. „Die Gänseprinzessin“ hat dennoch gewisse Längen; gerade der Schluss, als Polly ihre Talente endlich ausleben darf, ist unnötig ausführlich. Regisseur Frank Stoye hat für den SWR bereits das etwas altbacken umgesetzte ARD-Märchen „Die drei Königskinder“ (2019) sowie zuvor fürs ZDF das ähnlich gediegen inszenierte Weihnachtsmärchenfilm „Der süße Brei“ (2018) gedreht. (Text-Stand: 17.11.2022)