Die Auserwählten

Julia Jentsch, Ulrich Tukur, Leuker, Röskau, Röhl. Missbrauch mit System!

Foto: WDR / Katrin Denkewitz
Foto Rainer Tittelbach

Die Sonne strahlt im ARD-Fernsehfilm „Die Auserwählten“ durch das idyllische Halmbachtal. Die Odenwaldschule, ein Paradies auf Erden, ein Rektor als Lichtgestalt. Das ist nur die Außenwahrnehmung, die Christoph Röhl aus dramaturgischen Gründen ins Bild setzt, um die Schattenseite dieser „Bedürfnisbefriedigungsanstalt“ umso deutlicher werden zu lassen. Hier etablierte sich zwischen den 1960er und 1990er Jahren ein perfekt funktionierendes System des Missbrauchs. Der sensibel erzählte und hervorragend besetzte Fernsehfilm ist weit mehr als ein Sensibilisierungsinstrument und – er missbraucht die Opfer kein zweites Mal!

Ein landschaftliches Idyll, ein pädagogisches Gegenmodell und lauter nette Kollegen – die 29jährige Petra Grust tritt Anfang der 80er Jahre begeistert ihre Stelle als Biologielehrerin an der legendären Odenwaldschule an. Doch so faszinierend der charismatische Schulleiter Simon Pistorius mit seiner ganzheitlichen Theorie vom „Werde der, der du bist“ für die junge Lehrerin auch ist, so gibt es doch auch Vieles im Internatsalltag, was sie irritiert. Es wird geraucht, Alkohol getrunken, Marihuana auf die leichte Schulter genommen und ein Kollege hat sogar ein Verhältnis mit einer minderjährigen Schülerin. Ist Petra einfach nur spießig und prüde? Ist das gemeinsame Duschen von Schülern und Lehrern beiderlei Geschlechts tatsächlich nur eine Methode, um den Odenwaldianern „die Scheu“ voreinander zu nehmen, wie es Pistorius ausdrückt? Ein 13Jähriger, das vermeintliche Sorgenkind Frank, den der Rektor besonders intensiv betreut, benimmt sich immer auffälliger, wirkt verstört, bald regelrecht verzweifelt. Sind das morgendliche Duschen und das „Weckritual“ für die „Auserwählten“ vielleicht gar nicht so harmlos, wie es der verehrte Pistorius vorgibt?!

Soundtrack: Spencer Davis Group („Gimme Some Lovin’“), Kinks („You Really Got Me“), Joe Cocker („Feelin’ alright“, „Fun Time“), Guess Who („American Women“), The Jam („Goin’ Underground“)

Die AuserwähltenFoto: WDR / Katrin Denkewitz
Mit offenem Blick. Alice im bösen Wunderland. Anfangs irritiert die idealistische Petra (wunderbar: Julia Jentsch) nur das, was sie an der Odenwaldschule sieht.

Staunend und mit offenem Blick nähert sich die junge Lehrerin dieser bewundernswerten, freien Welt und dieser Lichtgestalt, die alle zu bezaubern weiß. Die Sonne strahlt verheißungsvoll gleich in den ersten Bildern des WDR-Fernsehfilms „Die Auserwählten“ durch das hessische Oberhambachtal. Hell und warm ist es rund um die vielfach gepriesene Odenwaldschule. Ein Paradies auf Erden. Das aber ist nur die Außenwahrnehmung, die Regisseur Christoph Röhl und das Autorenpaar Sylvia Leuker und Benedikt Röskau („Contergan“) aus dramaturgischen Gründen besonders ins Bild setzt, um die Schattenseite dieser „Bedürfnisbefriedigungsanstalt“ (taz) umso deutlicher werden zu lassen. Denn hinter der Fassade etablierte sich zwischen den 1960er und 1990er Jahren ein perfekt funktionierendes System des Missbrauchs. „Mindestens 132 Schüler der Odenwaldschule wurden Opfer sexueller Übergriffe“, heißt es im Abspann des Films. Zur 100-Jahrfeier 2010 kam es zum Eklat. Die als Kinder missbrauchten und noch immer traumatisierten Opfer wollten nicht länger schweigen, überwanden ihre Scham und stellten sich der Anhörung.

Produzent Hans-Hinrich Koch, treibende Kraft hinter dem Film, über die Fiktionalisierung des Stoffs:
„Emotional zu involvieren ist eine Stärke fiktionalen Erzählens. Vor allem, wenn es gelingt, den Zuschauer komplexe Zusammenhänge aus den jeweiligen Figuren-Perspektiven miterleben zu lassen… Es war von Anbeginn klar, dass ein einzelner Film niemals das ganze Ausmaß pädosexueller Verbrechen an der Odenwaldschule schildern kann. Aber in der Möglichkeit der fiktionalen Verdichtung lag die Chance, jene Aspekte eines Missbrauchssystems nachvollziehbar zu machen, die die völlige Hilf- und Hoffnungslosigkeit der Schüler erklärt.“

Redakteurin Barbara Buhl über das Drehen am Originalschauplatz:
„Die Hügelketten und Häuserzeilen der idyllischen und friedlichen Landschaft im hessischen Oberhambachtal, die so sehr vom Symbol freiheitlicher Erziehung und der Einheit von Leben und Lernen zum Sinnbild der brutalen Übergriffe mutiert sind, wurden Teil einer filmischen Dramaturgie, die auf diesen Ort zurückgreift und ihn als vieldeutigen Code in ihre Geschichte integriert.“

Die AuserwähltenFoto: WDR / Katrin Denkewitz
Dass Missbrauchssystem funktioniert! Perfide Täterstrategie & ein pädagogisches wie familiäres Umfeld, das sich gerne blenden lässt. Tukur, Jentsch, Rainer Bock

Dass am Originalschauplatz gedreht werden konnte, ermöglichte – neben der Sonnen-Licht-Metaphorik – das Spiel mit dem Märchenhaften, das sich atmosphärisch durch den gesamten Film zieht. Da ist das düstere Haupthaus mit seinen Winkeln und Erkern, da sind die kleinen Hexenhäuschen drum herum, dazu die Landschaft, der finstere Wald, die lichten Hügel. Für Regisseur Christoph Röhl, der bereits 2011 einen viel beachteten Dokumentarfilm über die Ereignisse am Vorzeige-Internat gemacht hat, wollte ganz bewusst die Doppelstruktur des Märchens, den Widerstreit zwischen dem Hellen und dem Dunklen, mit der Doppelbödigkeit des Missbrauchs koppeln. Missbrauchstäter manipulierten die Wahrnehmung der Gesellschaft. „Sie blenden sie“, so Röhl. „Nach außen hin ist alles schön und wunderbar und paradiesisch, aber hinter den Wänden findet das Grauen statt.“ Und so erweist sich in „Die Auserwählten“ der vermeintliche Sonnenkönig als böser Magier, als Verführer, als Menschenfänger, der im Dämmerlicht seine perfiden Pläne schmiedet. Der Titel spiegelt das ganze Dilemma: Da ist einer, der an seine Mission vom „pädagogischen Eros“ glaubt, der kein Unrechtsbewusstsein besitzt, quasi ein „Auserwählter“, der die Missbrauchten selbst zu „Auserwählten“ seiner Gunst macht und den Missbrauch selbst zur guten Tat umdeutet. Der Film zeigt, wie schwer es ist, diese Pyramide der Macht zu zerstören. Ganz unten die Schüler, im Mittelbau die Eltern der Kinder und die Lehrerin, die dem Jungen helfen will, ganz oben der selbstherrliche Pädo-Pädagoge, der von anderen Systemen der Macht getragen und geschützt wird.

Das System bestätigt sich selbst und hat immer Recht!
Kollegin: „Wenn der Schüler ein Problem hätte, dann würde er es doch sagen.“
Petra: „Vielleicht traut er sich nicht.“
Kollegin: „Das gibt’s hier nicht – dass sich jemand nicht traut.“

Die AuserwähltenFoto: WDR / Katrin Denkewitz
„Missbrauch verjährt. Nicht aber für die Betroffenen.“ Autoaggressives Verhalten. „Die Auserwählten“ ist klug & achtsam erzählt und ist darüber hinaus ein wichtiger Beitrag zum Missbrauchsthema, der sensibilisiert und präventiv wirken könnte.

Der Film durchleuchtet alle Ebenen von Macht und Ohnmacht. Da sind die, die politisch vom Glanz des Vorzeigepädagogen profitieren wie der Herr Staatssekretär, der Vater der einsam kämpfenden Lehrerin. Da ist der Sonnenkönig selbst, der sein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit für seine Neigung einzusetzen weiß. Da sind die Eltern, die froh sind, dass hier einer das übernimmt, zu was sie nicht in der Lage sind, und die nicht hinsehen, weil sie sonst auch sich selbst hinterfragen müssten und so die Entfremdung von ihren Kindern erkennen würden. Da ist eine Lehrerin, die die vom Rektor propagierte Freiheit als eine Freiheit der Stärkeren erkennt. Und da sind die Kinder, die Opfer. „Missbrauch verjährt. Nicht aber für die Betroffenen“, heißt es im Film. Röhl & Co tun alles, damit sich die Opfer von damals nicht noch einmal medial missbraucht fühlen müssen. Ein ängstliches Gesicht, ein gekrümmter Körper im Halbdunkel, ein sich nähernder Erwachsener, eine Berührung – Abblende.

Diskussionswürdig ist Christian Buß’ Gedanke (auf Spiegel online) zur Reformpädagogik:
„Bei aller fallspezifischen Genauigkeit ist „Die Auserwählten“ aber weniger ein Aufarbeitungsprojekt zur Odenwaldschule geworden als vielmehr das Sittengemälde einer Zeit, als eine hilflose Elterngeneration in der Entgrenzung das Glück ihrer Kinder zu sehen glaubte. Ein Irrtum, der ins Heute nachwirkt.“

„Die Auserwählten“ ist ein wichtiger Beitrag zur Sensibilisierung, indem er die Funktionsweise von Missbrauch für den Zuschauer nachvollziehbar macht. „Die Auserwählten“ ist aber auch als ein Film sehenswert, der einfühlsam, empfindsam und mit feinen ästhetischen Metaphern das schwierige Thema Primetime-tauglich, aber ohne zu verharmlosen, einem breiten Publikum nahebringt. Damit erübrigt sich die Frage, ob Röhls „Und wir sind nicht die Einzigen“ das Thema nicht adäquater vermittelt hätte. Der Dokumentarfilm schenkte ganz den Betroffenen Gehör. Die Themen des Spielfilms indes sind die Verschleierungsstrategien des Täters und die Verdrängung im Umfeld des Missbrauchs, bei Eltern wie Kollegen. Diese psychologischen Mechanismen lassen sich am besten erzählen. Röhl: „Wie kann man besser zeigen, dass sich ein Umfeld wegduckt, als durch die Geschichte einer Figur, die langsam auf Missstände in einem geschlossenen System aufmerksam wird, aber nirgendwo Gehör findet.“

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

ARD Degeto, WDR

Mit Julia Jentsch, Ulrich Tukur, Leon Seidel, Rainer Bock, Lena Stolze, Béla Gabor Lenz, Christian Friedel, Johanna Gastdorf, Adam Bousdoukos, Patrick Joswig, Bernd Stegemann

Kamera: Peter Steuger

Szenenbild: Erwin Prib

Kostümbild: Ute Grenz

Schnitt: Vessela Martchewski, Bernd Schriever

Produktionsfirma: ndf

Drehbuch: Sylvia Leuker, Benedikt Röskau

Regie: Christoph Röhl

Quote: 5,05 Mio. Zuschauer (17% MA); Wh. (2021): 3,24 Mio. (12,9% MA)

EA: 01.10.2014 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach