Heinrich dieser kultivierte Herr mit dem schlohweißen Haar, weiß so einiges vom Leben. Nachdem er sich bei den Cronpichels eingenistet hat, macht er sich bei der Dame des Hauses, Thea, ihres Zeichens Bevon-Beraterin, unabkömmlich als charmanter Frauenversteher: „Sie haben das Lächeln verlernt“, raunt er ihr entgegen und streichelt schon mal ihre Wange. Ehemann Rainer dagegen kann diesen Fatzke nicht ausstehen, der nach einem Treppensturz im Haus vorübergehend von der Familie adoptiert wird, sich an seinem Whisky bedient und seine Anziehsachen trägt. Nach ein paar Wochen kommt dann auch Thea das Ganze mit dem Hotel auf Mallorca und Heinrichs angeblicher Freundschaft zu ihrem verstorbenen Vater spanisch vor. Doch jetzt steht der Proletengatte auf die Märchenstunde vom vermeintlichen Heiratsschwindler. Aber Heinrich verändert sich, jetzt, wo er nicht mehr viel zu verlieren hat, macht er den sarkastisch vor sich hin ätzenden Ehepartnern klar, was sie aufs Spiel setzen. Und er erzählt seine letzte Geschichte, die eigene; dieses Mal ist es keine Lügengeschichte.
Dass jener Heinrich nicht der Hotelier aus Mallorca ist, für den er sich ausgibt, weiß der Zuschauer früher als die Cronpichels. Dennoch bleibt in der ARD-Komödie „Der Kaktus“ bis kurz vor Schluss offen, welches Geheimnis sich um das Leben des Endsechzigers rankt. Heiratsschwindler? Hochstapler? Dieb? Notorischer Lügner mit Hang zur Kleptomanie? Insofern unterscheidet sich dieser von Peter Simonischek gewohnt charismatisch gespielte Heinrich von den freundlichen Eindringlingen anderer Filme, deren Bärte oft noch ein bisschen weißer und länger und deren gute Taten meist noch etwas märchenhafter sind. Und er hat auch nichts mit der lauten, übergriffigen Art gemeinsam, die sich die „Penner“ gegenüber der verunsicherten Bourgeoisie herausnehmen in den Filmen, die sich an Jean Renoirs „Boudu, aus den Wassern gerettet“ anlehnen wie beispielsweise „Zoff in Beverly Hills“ mit Nick Nolte. Heinrichs Handeln scheint einerseits nicht von niederen Instinkten angetrieben zu werden, andererseits ist da dieser Hang, Dinge mitgehen zu lassen. Klaut hier einer silberne Löffel oder will der Fremde nur, dass das Paar, dessen Beziehung beträchtlich auf Trennungskurs geraten ist („Ich trainier’ für die Scheidung“), doch noch seine Silberne Hochzeit erlebt?
Die Prinzipien, die das Glücksversprechen geben sollen in Franziska Buchs Komödie nach dem lebensklugen Drehbuch von Gerlinde Wolf und Harald Göckeritz, sind ausgerechnet Lüge, Diebstahl und Betrug. Was für ein Paradox! „Dieser Heinrich nimmt die ebenso gutgläubigen wie verblendeten Mitglieder dieser Familie nach Strich und Faden aus und stiftet dabei ein heilsames Chaos, das Lebenslügen ans Licht und die Beziehungen der Menschen in eine neue Ordnung bringt“, umschreibt Regisseurin Buch die tiefere Bedeutung der Handlung. Zwar winkt in „Der Kaktus“ erwartungsgemäß ein Happy End, doch wesentlich nachhaltiger als das Wiederfinden der Liebe sind die hübschen Boshaftigkeiten innerhalb dieser reichlich dysfunktionalen Familie, in der beispielsweise der Vater insgeheim dem Sohn den Vorwurf macht, geboren worden zu sein und damit seine Musikerkarriere verhindert zu haben.
Nicht alles wird ausgesprochen, was da über die Jahre mehr und mehr in Schräglage geraten ist. Man kann sich das vorstellen. Der romantische Rocker (Heio von Stetten darf dem Proll Zucker geben) trifft die schöne Preußin (Nadja Uhl berlinert sexy durch Oberbayern), die bereits mit 17 ihrem Held das Ja-Wort geben musste. Und heute? Sie, die „Mitarbeiterin des Jahres“, fummelt an ihrem Outfit und Aussehen, er schraubt an seinen Rostlauben herum… Was Stimmung und Tonart angeht, ähnelt dieser Film einer Folkrockballade. Ein bisschen Wehmut und versteckter Schmerz, ein geheimnisvoller Fremder, der Wunsch zu überleben, gebraucht und geliebt zu werden. Eine klare ehrliche Haltung, aber genügend Leerstellen und wunderbare lakonisch-beiläufige Dialoge, um das Ganze nicht im Kitsch ertrinken zu lassen. Und ein Schuss (Selbst-)Ironie ist auch immer im Spiel. (Text-Stand: 8.5.2013)