Nama (Nama Traore), ein junger Flüchtling aus Mali, ist nur einer unter vielen, die in Berlin ankommen. Es herrscht Gedränge in der Aufnahmestelle, im Hostel für unbegleitete Minderjährige stehen die Doppelbetten dicht an dicht. Massenabfertigung, gestresste Polizisten und überforderte Asyl-Beamte – der Film beginnt mit wirklichkeitsnahen Szenen, die an die Zeit der hohen Flüchtlingszahlen im Herbst 2015 erinnern. Autorin, Regisseurin und Produzentin Feo Aladag verzichtet auf die Bilder des herzlichen Willkommens, als Flüchtlinge bei der Ankunft beklatscht und beschenkt wurden. Stattdessen schildert sie genau die Stationen der Aufnahme, die Begegnung mit der Polizei, die Befragungen auf den Ämtern, die Einweisung ins Heim, die ärztliche Untersuchung. Diesen ungeschönten, präzisen Blick auf die Realität verbindet Aladag mit einem bewegenden Familiendrama um einen jungen Flüchtling aus Afrika, einen deutschen Polizisten und dessen Vater. „Der Andere. Eine Familiengeschichte“ erzählt von den Schwierigkeiten der Annäherung, von Bürokratie und auch von Fremdenhass – geradlinig, ohne übertriebenes Pathos und ohne falsche Romantik. Umso wirkungsvoller ist die zutiefst humane Botschaft des Films.
Polizist Stefan (Milan Peschel) ist nicht nur wegen der vielen Flüchtlinge genervt. In seinem Auto stapeln sich die Bierflaschen, in seinem Haus schaut er Videos von einem Familienleben, das nicht mehr existiert. Frau und Tochter sind weg, und den alten Mann, der da mit einem Weihnachtsgeschenk vor der Tür steht, würdigt er kaum eines Blickes. Stefans Vater Willi (Jesper Christensen) lebt in einem Altersheim. Das Drama um Stefans Tochter und die Schuld-Frage, die zwischen ihm und seinem Sohn steht, bleiben vorerst unausgesprochen. In einer Kirche kreuzen sich die Wege von Willi und Nama. Der im deutschen Winter frierende Flüchtling lässt Willis Handschuhe mitgehen. Der alte Mann folgt ihm bis ins Hostel, stellt zornig Sozialarbeiterin Susanne (Katja Riemann) zur Rede. Wieso man die überhaupt ins Land lasse, wenn sie kriminell seien? Als Nama die Handschuhe später in die Kirche zurückbringt, kommt es zum Gerangel. Nama fällt, verletzt sich an der Hand, und der über sich selbst erschrockene Willi nimmt sich fortan des jungen Flüchtlings an.
Namas Bemühen um Asyl und die Suche nach seiner Mutter bilden den roten Faden: In einer Vorblende zu Beginn des Films sieht man eine Familienszene in Afrika. In unbeschwerter Runde wird gelacht und gegessen, ehe zwei Männer auftauchen, den Vater herbeirufen und davon zerren. Der kleine Junge, der dies mit ansehen muss, ist vermutlich Nama. Oder eben ein anderer. Die Szene erzählt stellvertretend davon, dass minderjährige Flüchtlinge, die sich allein in einem fremden Land zurechtfinden müssen, mit der Erinnerung an schreckliche Erlebnisse belastet sind. Fünf Jahre später – und in drei weiteren, kürzeren Zeitsprüngen – begleitet der Film Namas Ankunft und sein erstes halbes Jahr in Deutschland.
Aber ist Nama, der behauptet, 17 Jahre alt zu sein, überhaupt minderjährig? Ist Nama wirklich Nama? Die Identität zu klären, ist die Grundlage der bürokratischen Entscheidung, ob ein Flüchtling Anspruch auf Asyl oder einen sonstigen Aufenthaltstitel hat. Dass Feo Aladag diesen Prozess beinahe dokumentarisch skizziert, die Details von Namas Identität aber mehr oder weniger offen lässt, ist offenkundig Ausdruck ihrer Haltung – und der Botschaft des Films. „Spielt das ’ne Rolle, wer das wirklich ist?“, fragt Stefans Kollegin Lena (Alwara Höfels) den misstrauischen Polizisten. Und in einem Schlüsseldialog gegen Ende des Films sagt Stefan zu seinem Vater: „Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein.“ Willi antwortet: „Es spielt keine Rolle.“ Da ist Nama längst zu seinem Ziehsohn geworden, in dem sich Willi selbst erkennt: Als Vierjähriger war er im Februar 1945 nach Dänemark geflohen und hatte dabei seine Mutter verloren.
Namas Anwesenheit bringt Bewegung in das erstarrte Vater-Sohn-Verhältnis. Die Geschichte des Flüchtlings rückt mit der Zeit zwar etwas in den Hintergrund, zugleich gewinnt die Figur jedoch an Eigenständigkeit. Aus dem hilfsbedürftigen Flüchtling, der kaum Deutsch spricht, nicht lesen und schreiben kann, nachts vor Heimweh weint und sich große Sorgen um seine kranke Mutter macht, wird ein Mitbewohner und Ersatz-Sohn, der auf Willi & Stefan zugeht, beim Ausbessern der Einliegerwohnung anpackt und wieder etwas Lebensfreude bei den beiden Männern weckt. Das alles erzählt Aladag mit einem genauen Blick für Zwischentöne in den menschlichen Beziehungen. Das harte Ende, das sich durch die latente bis offenkundige Ablehnung in mehreren Szenen ankündigt, spiegelt schmerzlich die gesellschaftliche Stimmung, in der der Fremdenhass gerade auch im Mittelschichts-Milieu blüht. Ganz ohne Optimismus entlässt der Film sein Publikum aber nicht. Die Regisseurin beweist, dass es dazu keine große Szene braucht, sondern nur einfache Gesten, Blicke oder ein Lächeln.
Laien-Darsteller Nama Traore, der als Jugendlicher selbst von Mali nach Deutschland floh, zeigt als ernster, zurückhaltender junger Mann eine beachtliche Leistung. Grandios ist Milan Peschel in der Rolle des vom Schicksal gezeichneten, verbitterten Polizisten. Und dass Feo Aladag den Dänen Jesper Christensen aufbieten kann, der unter anderem in „Die Dolmetscherin“ und diversen James-Bond-Filmen mitspielte, ist auch nicht alltäglich. Ähnliches gilt für die Besetzung verschiedener Nebenrollen mit – neben Katja Riemann und Alwara Höfels – weiteren namhaften Darstellerinnen und Darstellern: Karoline Eichhorn (als Asyl-Beamtin in der Aufnahmestelle) und Jörg Schüttauf (als besorgter Nachbar) haben jeweils nur kurze Gast-Auftritte. Ursula Karusseit, einst ein Theater-Star in der DDR, spielt eine Mitbewohnerin von Willi im Seniorenheim.
Für den ZDF-Sendeplatz „Fernsehspiel der Woche“ ist dieser Film ein Glücksfall: Wo sich seit einigen Jahren zunehmend Krimi-Routine ausgebreitet hat, sticht dieser gesellschaftspolitisch ambitionierte Stoff deutlich hervor. Es wäre schön, wenn der Sender diesen Weg weiter verfolgt und das einst von Hans Janke erfundene „Fernsehspiel der Woche“ wieder häufiger seinem Titel gerecht wird. Erfreulich außerdem: Feo Aladag bringt ihre Qualitäten nach dem vielfach ausgezeichneten Kinofilm „Die Fremde“ (2010) und nach der ZDF-Kinokoproduktion „Zwischen Welten“ (2014) nun auch speziell im Fernsehen ein. „Der Film sollte jetzt an die Öffentlichkeit kommen, nicht erst in zwei, drei Jahren. Die Möglichkeit, einen solchen Spielfilm als Fernsehfilm schnell, frei und unbürokratisch zu realisieren, inspirierte mich zu einer unmittelbaren Art des Geschichtenerzählens“, sagt die Autorenfilmerin, die ihre Werke auch selbst produziert. Für das Medium Fernsehen ist das offenkundig ein Gewinn.