Stress mit der Freundin, Ärger mit der Redaktion, und dann stirbt auch noch die krebskranke Mutter: In den ersten Filmminuten hetzt Patrick, ein in Athen lebender Fotograf, wie aufgescheucht von einem Ort zum anderen. Dass er für eine Zeitung noch analog arbeitet, ist im Jahr 2023 eher unwahrscheinlich, hat aber visuelle Vorteile: Die Dunkelkammer, in der die letzten Fotos von seiner Mutter Daniela (Agnes Mann) Gestalt annehmen, ist auch eine Metapher für die langsam zurückkehrenden, alptraumhaften Kindheitserinnerungen. Patrick heißt eigentlich Alex (Noah Saavedra) und war mit seiner Mutter vor 20 Jahren in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden, nachdem vor seinen Augen Vater Frank Jaromin (Daniel Lommatzsch) und Alex‘ kleine Schwester erschossen wurden. Angeblich von bosnischen Serben, die sich an dem Bundeswehr-Scharfschützen Frank Jaromin rächen wollten. Doch bei den Habseligkeiten, die seine Mutter in einer kleinen Reisetasche hinterlässt, sind auch einige Fotos. Auf einem davon glaubt Alex den Killer von damals wiederzuerkennen: Ivo Rebic (Luc Schiltz), einen ehemaligen Kameraden seines Vaters. Und dann ist da noch eine DVD mit einem Video, das Alex aus Zeitgründen in seine Cloud hochlädt, ohne es komplett anzuschauen. Der junge Fotograf pfeift auf den Zeugenschutz und macht sich auf den Weg nach Deutschland, um die wahren Hintergründe des Mordanschlags auf seine Familie im Jahr 2003 aufzuklären. Den bereits in der ersten Folge zahlreich in Erscheinung tretenden Agent:innen des Bundesnachrichtendiensts (BND) ist das gar nicht recht.
Foto: WDR / Marq Riley
Die High-End-Serie „Das zweite Attentat“ überzeugt von Beginn an mit wohl dosierten Andeutungen und einer durchdachten und sehenswerten Bildgestaltung, die die verschiedenen Schauplätze und Zeitebenen, die Erinnerungen und die Film-Realität klar voneinander abgrenzt. Mit dem jungen, attraktiven Alex als Identifikationsfigur fällt zudem der Einstieg in die komplexe Geschichte leicht. Sein fotografisches Talent wird noch eine wichtige Rolle spielen, und natürlich bleibt es nicht bei den ersten Begegnungen mit der ebenfalls attraktiven Dolmetscherin Simin Najeri (Deleila Piasko), die wegen eines Kongresses zur Lage im Iran von Berlin nach Athen gereist ist. Die weibliche Nebenfigur wird jedoch nicht in erster Linie für eine Lovestory gebraucht. Auch die Parole „Frau Leben Freiheit“ wird nicht zum letzten Mal zu hören sein. Der im Jahr 2023 hochaktuelle Kampf der von Frauen getragenen iranischen Opposition wird in die Handlung miteinbezogen, ohne dass es aufgesetzt wirken würde. Zu Beginn der vierten Folge sorgt eine mutige, selbstlose Frau am Teheraner Flughafen dafür, dass die führende Oppositionelle Taraneh (Shiva Gholamianzadeh) ausreisen kann. Und in dem in Luxemburg gedrehten Finale kommt Taraneh eine wichtige Nebenrolle zu.
Auch beim Kernthema der Serie, den Vorbereitungen für den Krieg im Irak 2003, stehen engagierte muslimische Frauen für den Kampf um Frieden. Abeer (Rafka Saouis) wird in der zweiten Folge als Irakerin aus dem Widerstand vorgestellt, die über Beweise verfüge, dass ihr Land keine Massenvernichtungswaffen besitze. Abeer will die Dokumente, sich selbst und ihre Mutter mit Hilfe der Franzosen außer Landes bringen, was eine umfassende Operation mehrerer Geheimdienste auslöst. Auch Scharfschütze Frank Jaromin reist über Amman nach Bagdad und gerät unterwegs in einen Kompetenzstreit zwischen BND und Bundeskanzleramt. Welche Beweise Abeer den europäischen Diensten zu bieten hat, bleibt völlig unklar. Sie spielen auch in der Folge keine Rolle – im Gegensatz zu der in Bagdad organisierten Übergabe, bei der Scharfschütze Jaromin über Funk zu einer folgenschweren Entscheidung gedrängt wird. Ein manipuliertes Video macht ihn zum Sündenbock. Warum Alex‘ Mutter, die im Besitz der DVD mit dem ungefälschten Originalvideo war, davon zeitlebens keinen Gebrauch gemacht hat, bleibt rätselhaft – und wieso niemand auf die Idee kommt, davon mal eine Kopie zu ziehen, ebenfalls. Die Logik steht also auf etwas wackligen Füßen, aber die in Griechenland gedrehten Schlüsselszenen im Nahen Osten sind jedenfalls packend inszeniert.
Foto: WDR / Thomas Kost
Auch sonst werden die Ansprüche einer hochwertigen High-End-Produktion erfüllt. Tempo, Dynamik und knallharte Action bestimmen dabei nicht nur die Rückblenden. Der wütende und ungestüme Alex macht Ivo, den vermeintlichen Mörder seines Vaters, in seinem Versteck irgendwo in Brandenburg ausfindig. Allerdings lässt BND-Agent Steffen Graf (Jules Werner) jeden seiner Schritte überwachen. In Berlin tritt deshalb ein rücksichtsloses Agenten-Duo auf den Plan, das Alex letztlich daran hindern soll, die deutsche Mitverantwortung für die Kriegsvorbereitung ans Licht zu bringen. Der Überfall durch Freddy (Alessija Lause) und Toni (Torben Liebrecht) am Ende der zweiten Folge mündet in ein mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ unterlegtes Blutbad. Insbesondere Alessija Lause („Tatort“ Dortmund), die früher auch als Stuntfrau gearbeitet hat, hinterlässt in der Serie als taffe Killerin Eindruck. Zu Verschwörungserzählungen gehört natürlich, dass die dunklen Mächte im Hintergrund vor nichts zurückschrecken. Insofern sind Gewalt und Tod notwendiger Teil des Genres und werden hier trotz einiger Härte nicht auf übertriebene Weise ausgestellt. Eher schon wundert man sich über die Überlebenskunst mancher von Kugeln getroffenen Opfern.
Die Geschichte hinter der Geschichte ist filmisch bereits mehrfach aufbereitet worden. Für den 2016 mit einem Emmy ausgezeichneten Dokumentarfilm „Krieg der Lügen – Curveball und der Irak-Krieg“ hatte Autor Matthias Bittner den in Deutschland lebenden Informanten Rafed Ahmed Alwan alias „Curveball“ ausführlich interviewen können. Johannes Naber wiederum verarbeitete den realen Stoff in der Kino-Politsatire „Curveball – Wir machen die Wahrheit“ (2020) mit Sebastian Blomberg. Der Serie „Das zweite Attentat“ fehlt es komplett an Humor, aber das Abhängigkeitsverhältnis von den USA spielt hier ebenfalls eine Rolle. Während eine deutsch-amerikanische Verschwörergruppe „Curveball“ abzuschirmen versucht, kommen vor allem im Bundeskanzleramt Zweifel an dessen Behauptungen auf. In Folge drei kommt Désirée Nosbusch als Verhörexpertin Hanne Lay vom Bundeskriminalamt (BKA) ins Spiel, die ebenso wie der zwischen Politik und Geheimdiensten vermittelnde Strippenzieher Josef Bardeaux, herausragend gespielt von Jakob Diehl, auf beiden Zeitebenen eine Rolle spielt. Und neben all der Action und den Hinterzimmer-Manövern bleibt noch Platz für ein Vater-Sohn-Drama. Sechs Folgen à 45 Minuten sind da nicht zu viel.
Foto: WDR / Thomas Kost
Die Grund-Idee für den Stoff hatte Oliver Bottini, ein profilierter Autor von Kriminalromanen, der zum Beispiel auch die vom WDR teilweise verfilmte Buch-Reihe mit Kommissarin Louise Boni geschaffen hatte. „Zwei, drei Jahre lang schrieb ich parallel Serie und Roman, was zu unerwarteten Schwierigkeiten führte: Meistens wollte der Romanautor anders als der Drehbuchautor“, wird Bottini im Pressematerial des WDR zitiert. Der Roman „Einmal noch sterben“ erschien 2022, für die ab Oktober 2023 gedrehte Serie wurde auf Vorschlag der WDR-Redaktion die zweite Handlungs- und Zeitebene um Frank Jaromins Sohn Alex hinzugefügt. Außerdem wurden Bottini nach eigenen Angaben für die Entwicklung der Drehbücher weitere Autorinnen und Autoren zur Seite gestellt. Ambition und Aufwand bei der vom erfahrenen Kölner Produzenten Mario Krebs („Unter Verdacht“) mit Unterstützung auch aus Griechenland und Luxemburg realisierten Serie sind erkennbar hoch und sorgen für beste Genre-Unterhaltung. In Zeiten, in denen immer mehr Menschen an einen „deep state“ und nicht mehr an eine funktionierende Demokratie zu glauben scheinen, lösen Verschwörungsthriller allerdings zunehmend zwiespältige Gefühle aus. Vielleicht verzichteten die Macher deshalb auf die beliebte Einblendung „Diese Serie beruht auf wahren Ereignissen“. Bottini betont sogar ausdrücklich, dass die „Gruppe Schmid“ und das amerikanische „Annandale Institute“, die in der Serie den deutsch-amerikanischen Verschwörerzirkel bilden, erfunden seien. Ein Hinweis, der nicht schaden kann in einer Welt, in der die Wirklichkeit und fiktionale Schreckensszenarien nur noch schwer auseinander zu halten sind.
4 Antworten
Leider kann man euch nicht ernst nehmen, weil ihr ja fast alles toll findet.
Ein Klischee nach dem anderen. Und was man nicht durch eine fokussierte Story (anstatt endlosem Schauplatzwechsel) erreichen kann, macht man eben einfach durch immer brutalere Gewaltszenarien wett.
Generell kann ich mir die Sterne-Inflation bei Tittelbachs Bewertungen die auch mein Vor-Poster mokiert, nur so erklären: wenn man nicht spurt, und einem 3.5 Sterne-Drama wie diesem nicht 5.5 Sterne und überfliessendes Wohlwollen entgegen bringt, wird man von den Produktionsfirmen einfach abgeschnitten und kommt „zufällig“ nicht mehr an Vor-Exemplare zur Bewertung.
Nee, Deutschland kann keine solchen Polit-Thriller. Die ersten drei Episoden waren eine wirre Anreihung von Schauplatzwechseln in unterschiedlichen Zeitebenen, ohne dass es für den Zuschauer irgendeinen Sinn ergab. Erst ab Folge 4 bekommt die Erzählung eine «Story». Das bedeutet: 50% der Serienerzählung (also 3 der 6 Folgen) waren erzählerisches Geschwafel…und das Schlussbild setzt dem ganzen erzählerischen Bullshit dann noch die Krone auf, mit der Option sich davon noch womöglich eine zweite Staffel anschauen zu müssen. Bestimmt nicht.
Ich kann auch nicht begreifen, wie diese Serie 5,5 Sterne bekommen konnte, vielleicht für den Versuch.
Atemberaubend schlecht! And den Haaren herbeigezogene Handlung, die sich zwar auf einige historische Fakten beruft, diese aber dermaßen mit fiktiven Thrillerelementen kombiniert, dass daraus eher eine „Wir haben’s ja ohnehin schon immer gewusst und im Internet steht’s auch“ Bestätingung für Verschwörungstheoretiker und AfD Fans wird. Allerdings widerspricht so eine Serie für mich doch etwas zu sehr einem öffentlich rechlichen Informations- und Bildungsauftrag, ich habe aber schon länger den Verdacht, dass da zumindest in einigen Entscheidungsträgeretagen schön langsam aus der ARD eine AfRD geworden ist.
Drittklassige Schauspieler, der Hauptdarsteller ist außer vielleicht als Heidi Klum Model eine völlige Niete, lediglich Nosbusch und Lause vermögen darstellerisch zu überzeugen, die sind auch keine Ausnahmetalente, beherrschen aber zumindest ihr Handwerk.
Wie solche Autoren oder Drehbuchatoren überhaupt öffentlich rechtliche Aufträge bekommen, ist mir ein Rätsel. Gibt es da kein Qualitätsmanagement?
Kamera und Regie klopfen in wirrer Abwechslung Hochglanz-Werbespot-Optik und pseudo-dokumetarische Trash-Visualisierungen ab, da hat man anscheinend mit Beleuchtung und Nachbearbeitung den Umstand in den Griff zu bekommen, dass die Regisseurin ihre Darsteller weder im Griff hat noch all zu sehr zu motivieren vermag.
Der finale, oberflächlich-substanzlose, effekthaschende Schuss in den Ofen ist die Endeinstellung! Bitte, bitte keine Fortsetzung!!!