Eine Schulkonferenz soll darüber entscheiden, ob der 15jährige Max Berlinger (Samuel Benito) an einem Berliner Gymnasium bleiben darf oder von der Schule verwiesen wird. Er hat seinem Mitschüler Karim (Oskar Redfern) ein Ohrläppchen abgebissen und einem anderen, Reza (Victor Kadam), die Nase gebrochen. Das abendliche Krisengespräch ist von Anfang an eine Farce. Kein Elternvertreter. Kein Vertrauenslehrer. Dafür der Hausmeister (Florian Martens) als Beisitzer. Und im Bericht der Lehrerin, Annika Ritter (Anna Brüggemann), steht nichts von dem, was dem blutigen Vorfall vorausging: wochenlanges Mobbing, verbal und physisch, nachdem Max vor der Klasse erstmals seine jüdische Herkunft angesprochen hatte. Auch Schulleiter Stege (Devid Striesow) spielt den Vorfall noch immer herunter: Für ihn habe kein Hinweis auf einen antisemitischen Hintergrund vorgelegen, betont er. Max Eltern, Vater Simon (Thomas Sarbacher) und Mutter Valerie (Ursina Lardi), die zum jüdischen Glauben konvertiert ist, sind außer sich über so viel Ignoranz. Aber auch die erfahrene Dame von der Schulaufsichtsbehörde, Dr. Gisela Nüssen-Winkelmann (Iris Berben), kann sich nur wundern und konstatiert kühl: „Stege, Sie haben ein Problem.“ Als zu später Stunde noch Rezas Mutter (Neda Rahmanian) zu der immer emotionaler werdenden Runde dazustößt, ist es ausgerechnet jene so abgeklärt wirkende Beamtin, die für einen Eklat sorgt.
Foto: ZDF / Conny Klein
Von einem Abend der Entgleisungen erzählt die ZDF-Komödie „Das Unwort“. Ein gesellschaftliches Phänomen wird auf den Mikrokosmos einer Schulkonferenz heruntergebrochen. Ausgangspunkt für den Film waren die antisemitischen Übergriffe an deutschen Schulen. Autor-Regisseur Leo Khasin („Kaddisch für einen Freund“) wollte wie Produzentin Sarah Kirkegaard weder ein Sozialdrama noch einen Betroffenheits(themen)film machen. „Aus meiner Sicht ist das Problem nicht einfach nur Täter gegen Opfer, das Problem ist die Mehrheit der Gesellschaft, die einfach nur den Mund hält.“ Den Kommunikations-Rahmen über den konkreten Konflikt hinaus zu erweitern, ist ein kluger Schachzug. So lässt sich erkennen, dass es vor allem Ressentiments und Vorurteile sind, die den (anfangs verleugneten) Konflikt befeuern und eine pragmatische Lösung fast unmöglich machen. Und wie sollen ausgerechnet die Jugendlichen den richtigen Ton im Umgang miteinander finden, so argumentiert der Film, wenn die Erwachsenen dazu nicht in der Lage sind?! Offen bleibt, inwieweit die Schüler*innen in ihrem Handeln und ihren unüberlegten Äußerungen („Die Juden verarschen uns mit ihren Storys“) von außen beeinflusst wurden, zweifelsfrei aber ist, dass der Urgrund des Problems im Unvermögen der Gesellschaft liegt, einen offenen Diskurs zu führen. Das wiederum mag an dem historisch erklärbaren Unbehagen liegen, das Wort Jude in den Mund zu nehmen. Für Khasin war das mit ein Grund, eine Komödie zu machen.
„Ich wusste, wir können dem Thema antisemitische Übergriffe an deutschen Schulen nicht ernsthaft gerecht werden. Egal was wir erzählen – die Fettnäpfe, die Schubladen, die Vorurteile und auch die Hilflosigkeit, die im Umgang mit Antisemitismus im Alltag entstehen, werden wir nicht ausklammern können. Warum also nicht das Unbehagen und Unvermögen selbst zum Thema machen – in einer Komödie, bei der jede Seite ihr Fett wegkriegt und bei der einem das Lachen im Halse steckenbleibt?“ (Sarah Kirkegaard, Produzentin)
Foto: ZDF / Conny Klein
Das Lachen mag zwar keine gesellschaftlichen Probleme lösen, aber es lockert, es befreit, weil es eben auch ein körperlicher Akt ist, der Aggressionen abbauen und ersetzen kann. Bei der Schulkonferenz geht es bierernst zu – es wird anfangs betreten geschwiegen, dann gestritten, gewütet, gewettert gegen andere, geweint. „Mein Ziel ist es, mit dieser Komödie die Beklemmung zu lösen und die Gelegenheit eines unverkrampften Umgangs mit jüdischen Themen zu bieten“, so Leo Khasin. Heilsames Lachen als Lösungsansatz, das kommt auch eindrucksvoll in der Geschichte selbst zum Tragen. „Die Araber sind die Juden von heute“, sagt eine Bewohnerin im Altenheim, in dem die Jungs zum Sozialdienst verdonnert werden – und sie erntet bei ihnen mit diesem Satz ein Heidengelächter. Dieses Lachen ist für Max, Karim und Reza eine echte Befreiung. Eine kleine Utopie. Wie die Vision, die am Ende auch Simon Berlinger hat. Statt disziplinarischer Verfahren – versuchen zu verzeihen.
Der Filmemacher begegnet dem gesellschaftlichen Problem aber nicht nur mit Meta-Blick und unterhaltsamem Genre, auch das dramaturgische Prinzip in der Mikrostruktur der Geschichte sorgt dafür, dass der Zuschauer mit der Argumentation des Films besser mitgehen kann. Ob das Wegducken der Lehrerin, die halbherzigen Lösungsansätze des Direktors, die Gewalt-Befürwortung von Simon Berlinger oder die Abwesenheit von Karims Vater – das Verhalten aller Figuren ist ein Stück weit nachvollziehbar und menschlich verständlich, doch irgendwann an diesem Abend stolpert jeder über seine eigenen Vorurteile („Ich bin von diesen Leuten nichts anderes gewohnt“) – was die Situation zunehmend vergiftet. Jeder muss zumindest ein Mal als Buhmann herhalten. Um die eigene Haut zu retten, werden andere beschuldigt, und es hagelt Beleidigungen: „Du verlogene Bestie“, „Du Dreckschlampe“, zetert die Mutter von Max, „Sie Arsch“, wettert sogar die Lehrerin gegen ihren Schulleiter. Was die Teenager können, das können die Erwachsenen schon lange. Sie dürfen von Glück sagen, dass sich hier keiner eine blutige Nase oder ein blaues Auge holt. Je länger der Abend, umso tiefer die Gräben. Jeder gegen jeden, heißt es kurz vor Schluss. Als dann auch noch die egozentri-sche Mutter des Nasenbruchopfers auftaucht, sieht sogar die so aufgeräumte Schiedsrichterin rot: Ausgerechnet eine Iranerin maßt es sich an, die deutsche Demokratie und Gastfreundschaft zu kritisieren! Dafür hat Frau Dr. Gisela Nüssen-Winkelmann die passende Antwort parat: „Schicken Sie Ihren missratenen Sohn in den Iran, wo er auch hingehört.“
Khasin setzt in seiner Komödie auf Verhaltensarchetypen und Kommunikationsmuster; aus den komischen Dialogwechseln hört man mitunter eine Spur Loriot heraus. Jede Figur hat ihr besonderes Naturell, das auch als Wesensart von Tieren gilt, wie der originelle Vorspann dem Zuschauer nahelegt. Beispielsweise wird dem Schuldirektor die Schlauheit des Fuchses zugeschrieben. Seine Devise: Die Probleme leugnen, dann hat er auch keine Probleme mit seiner politischen Karriere. Keinem etwas zuleide tun will das Kaninchen Frau Ritter und der wilde Stier Simon Berlinger eckt (zunächst) überall an. „Das Unwort“ ist dennoch eine Charakterkomödie. Dafür sorgt schon allein das Spiel des ausgezeichneten Erwachsenen-Ensembles, dem man trotz oder gerade wegen des langen Ein-Raum-Geschehens ohne Ende zuschauen könnte. Berben, Striesow, Lardi & Co gelingt es, die Dynamik der Gruppe, die sich mehr und mehr entfremdet, deutlich zu machen. Die Szenen zwischen den Schülern, die als Rückblenden eingeschoben werden, fallen dagegen etwas ab, vor allem in der Darstellung. So manches wirkt hier ziemlich aufgesagt und einige Sätze sind dem Pädagogikhandbuch entnommen („Wie sehen denn Juden aus?“). Das wiederum entspricht der Botschaft des Films: Es ist das Drama der Elterngeneration, sie leben die Vorurteile aus innerer Überzeugung; die Kids plappern das Aufgeschnappte mehr oder weniger nur nach. (Text-Stand: 10.10.2020)