Die Luft ist raus aus der Ehe von Annie (Bernadette Heerwagen) und Ralf Frieding (Thomas Loibl). Und das ist nicht nur die subjektive Sicht der unzufriedenen Ehefrau, die nach Ansicht ihres Mannes zum Drama neigt: Zwei Jahre ohne Sex lassen sich nicht wegdiskutieren. Aber unterschiedlich bewerten: Ralf findet das normal; „andere haben das auch“, sagt er. Und so machen die beiden, anstatt ein schönes Wochenende gemeinsam zu verbringen, lieber Pause voneinander. Also fährt Annie mit ihrer besten Freundin Tine (Kathrin von Steinburg) zum Wellness-Wochenende nach Österreich. Ein kleiner Schritt in Richtung Wohlbefinden mit großen Auswirkungen auf das Familienleben. Annie hat sich von der physischen Fröhlichkeit ihres Fitness-Trainers (Eugene Boateng) anstecken lassen – und mit ihm geschlafen. „Es war schön, aber es war falsch“, sagt sie; auf jeden Fall gibt ihr der Seitensprung zu denken: „Ich war einem fremden Mann näher als Ralf in den letzten zwei Jahren“, gesteht sie ihrer Freundin. Auch für Tine ist Sex kein unbeschwertes Thema mehr: Sie und ihr Mann Nils (Manuel Rubey) versuchen seit Jahren vergeblich, ein Kind zu bekommen. Annie dagegen hat sich – wie sich bald herausstellt – bei ihrem One-Night-Stand schwängern lassen. Jetzt ist sie ratlos. Und wie reagiert ihr Göttergatte? Der ringt nach Fassung und verlässt fluchtartig das Haus, als Annie, in Erwägung zieht, das Kind zu behalten. Sie arbeitet schließlich als Krankenschwester in einer Kinderwunschklinik. Das verpflichtet. Überraschenderweise ist allerdings ihre pubertierende Tochter (Antonia Fulss) bereit, „das“ mit ihr durchzuziehen.
Ein Paar hängt in der Zeitschleife ihrer Beziehung fest. Ob die beiden wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ wohl eine zweite Chance bekommen? Die Voraussetzungen stehen nicht schlecht – immerhin kennen sie den Hollywood-Klassiker und eine ganz so eingefahrene Reihenhausfamilienehe will man ihnen nicht zutrauen, was auch mit der Besetzung zu tun hat: mit der vielseitigen Bernadette Heerwagen („München Mord“) und Charakterkopf Thomas Loibl („Kühn hat zu tun“). Eines aber ist „Annie – kopfüber ins Leben“ von Martin Enlen („Ich war eine glückliche Frau“) nach dem lebensklugen Drehbuch von Dominique Lorenz („Eine harte Tour“) nicht: das, was die Amerikaner Remarriage-Comedy nennen. Nicht, weil das Paar keine Chance mehr hätte, wieder zusammenzufinden, sondern weil sich der Film keiner Genre-Muster bedient. Vielmehr arbeitet sich die Handlung ab am Thema Liebe, den Formen des Zusammenlebens und spart dabei die Grenzen der Monogamie und das für viele unrealistische „Bis dass der Tod uns scheidet“ nicht aus. Die Geschichte besitzt also einen dramatischen Kern: Eine Ehe steht vor ihrem möglichen Ende, die Tochter wird hin- und hergerissen, und das Baby könnte – wonach es zwischenzeitlich aussieht – keinen Vater haben, so wie es unglücklicherweise auch ihren beiden „Erzeugern“ einst ergangen ist. Theoretisch ist es also keine schlechte Idee, dass sich der Fitness-Trainer auf seine Verantwortung und seine Biographie („Ich will sowas wie eine Familie“) besinnt. Seine ghanaischen Wurzeln erlauben es im Übrigen Annie nicht, bei der Lösung des Problems den gängigsten aller Wege zu gehen – Stichwort: Kuckuckskind. Allerdings ist sie dafür auch eine viel zu ehrliche Haut.
Es ist auch kein Zufall, dass für die Titelfigur der Gedanke, das Kind allein aufzuziehen, nicht der Super-GAU ist. Immerhin hat sie von ihrer Mutter, Doris Baumann (Rita Russek), die den Mann nur in ihrem Namen trägt, immer wieder zu hören gekriegt: „Die Welt kommt ohne Kerle aus.“ Sie und Annies Schwiegereltern tauchen nur drei bis vier Mal im Film auf, besitzen aber neben ihrem komödiantischen Potenzial (jeder der drei ergreift ständig Partei für sein „Kind“) durchaus auch eine Relevanz für die Charakter-Zeichnung von Annie und Ralf: Während sie bereit ist, das Unkonventionelle auszuprobieren, liegt es ihm eher, Probleme und Emotionen kleinzureden. Das könnte er sich von seinen Eltern (Brigitte Kren & Michael Lerchenberg) abgeguckt haben. Ähnlich wie bei „Baumann“ könnte sich Lorenz auch beim Familiennamen „Frieding“ etwas gedacht haben: Das klingt nach Frieden, nach Ruhe, nach Konfliktscheue, und der Begriff Ding konnotiert objektivieren, versachlichen, rationalisieren.
Annie – kopfüber ins Leben“ ist sehr genau in der Analyse des Verhaltens der Heldin: Lorenz und Enlen zeigen, was Annie tut und wie sie ihr Verhalten nachträglich bewertet. Sie lenkt ein, spricht von eigenen Fehlern, sie bereut ihren One-Night-Stand. Die Bilder aber haben dem Zuschauer Minuten zuvor noch etwas ganz anderes vor Augen geführt: Sie wollte unbedingt Sex haben mit dem sehr viel jüngeren Mann; sie allein war die treibende Kraft in dieser schicksalhaften Nacht. Liebe hin oder her – Annie verhält sich so, wie sich hinterher wohl die meisten verhalten würden. Ein Kind allein erziehen ist kein Zuckerschlecken, das muss – ihren tönenden Sonntagsreden zum Trotz – selbst ihre Mutter zugeben. Auch Annie macht diese Erfahrung. Und so könnten nicht nur die Zuschauer, die großen Liebesbekundungen angesichts der Scheidungsstatistiken skeptisch gegenüberstehen, so ihre Zweifel haben an der amourös motivierten Entwicklung der Geschichte. Pragmatismus obsiegt eben manchmal über die „große Liebe“, so wie die Gewohnheit über die sexuelle Anziehungskraft.
Das Schlussbild jedenfalls ist für beide Lesarten offen: für die, die sich an die drei magischen Worte hält, und für die, die den Menschen als kluges, psychologisches Wesen versteht, das sich selbst aus überlebensstrategischen Gründen immer wieder etwas vormacht, ohne sich dessen stets bewusst zu sein. Dass der Film nicht (nur) das Loblied auf den Mythos der romantischen Liebe singt, gehört neben dem lockeren Wechsel von pointierten und ernsthaften Dialogen, neben dem Top-Doppel Heerwagen/Loibl und der auch in kleinen Rollen hochkarätigen Besetzung zur besonderen Qualität dieses familienfreundlichen ZDF-Fernsehfilms, den Enlen ebenso hell & flott wie angenehm unauffällig inszeniert hat. Besonders unterhaltsam wird die Handlung, wenn es zum Pingpong zwischen Komik und Tragik kommt. Bestes Beispiel dafür ist eine muntere Szene in der Mitte des Films, in der die Eltern zu Besuch kommen, während der dunkelhäutige One-Night-Stand-Lover – nach einer platonischen Nacht (was die die Gäste nicht wissen können) – in der Küche am Frühstückstisch sitzt; natürlich darf bei diesem Stelldichein auch der Ehemann nicht fehlen. Für die antiromantische Lesart besonders bedeutsam ist die Schlussszene: Gartenparty bei den Friedings. Das Baby wird herumgezeigt – und (fast) alle, Familie und Freunde, strahlen übers ganze Gesicht. Das hat was vom Selfie-Gegrinse und erinnert mehr an die inszenierten Homevideo-Rituale als an echtes Glück. Wie auch? Der Kopfsprung ins Leben endet (wie so oft, wenn Paare sich nichts mehr zu sagen haben) in der Mutterrolle. Heerwagens Blick jedenfalls ist mehr als nachdenklich. Mit Sex wird es wohl erst mal wieder nichts. Wer will, kann das Zusammenleben der Friedings – trotz eines Kindes als Resultat eines Seitensprungs – natürlich auch als Inbegriff eines romantischen Bekenntnisses lesen. (Text-Stand: 26.2.2020)