Hat sich der korrupte Kommissar und Ex-Junkie Erich Kessel (Fritz Karl) tatsächlich erfolgreich resozialisieren lassen? Sein Chef Epstein (Martin Brambach) und Mario Diller (Nicholas Ofczarek), sein bester Freund, bis er ein Verhältnis mit Kessels Frau Claire (Jessica Schwarz) hatte, sind fest davon überzeugt. Auch in seinem neuen Job als Barmann auf St. Pauli macht der einst so tief Gefallene nach zwei Jahren Knast eine gute Figur: schwarze Hose, weißes Hemd, Krawatte, kein Schweiß auf der Stirn, kein Zittern mehr – nur im Lügen ist er offenbar noch immer der Größte. Was Staatsanwältin Soraya Nazari (Melika Foroutan) ahnt, scheint sich zu bewahrheiten: Kessel wurde kurz vor der Entlassung von Mithäftling Walid Schukri (Kida Khodr Ramadan), ein Mörder aus gutem Grund, als Kopfgeldjäger engagiert. Für 50.000 Euro soll er ihm den Mörder seiner Tochter ans Messer liefern. Die Erfahrung, sein Kind zu verlieren, musste Kessel auch gerade erst machen, und das Geld könnte der zum Barmann degradierte Bulle gut gebrauchen; denn seine Frau will es noch einmal mit ihm versuchen. Kessel zögert noch. Hat es ihm vielleicht die Prostituierte Debbie (Josefine Israel) angetan? Oder will er nur für sie der Retter sein? Wie dem auch sei, eine illegale Abhöraktion gegen ihn dürfte den Geldsegen ohnehin eher unwahrscheinlich machen.
In „Alles auf Rot“ schickt Lars Becker Kessel, Diller & Co zum vierten Mal in die Niederungen des Hamburger Drogensumpfs, in dem ein Menschenleben nicht viel zählt. Der Ex-Polizist geht auf der Reeperbahn vor Anker und mixt mit Vorliebe Bloody Marys, derweil es seine Ex-Kollegen mit einem Doppelmord zu tun bekommen. In einem arabischen Brautmodengeschäft werden ein Rapper und seine Zukünftige, besagte Schukri-Tochter, brutal erschossen. Die Morde werden nicht gezeigt. Man sieht nur das verängstige Gesicht der Person, für die das Blutbad Konsequenzen haben könnte: Dalida (Narges Rashidi); sie ist die Frau von Mohammed Medjoub (Sahin Eryilmaz), dem taxifahrenden Kokshändler, der in „Reich oder tot“, an den zwei Jahre später die Handlung nun direkt ansetzt, maßgeblich an der Verurteilung Kessels beteiligt war (was dieser ihm offenbar nicht übelnimmt). Der Killer stellt sich dann allerdings nach 25 Filmminuten selbst vor. Der macht zwar auf dicke Hose, verhält sich gegenüber Frauen nicht immer ganz korrekt, aber wie einer, der stur weitermordet, sieht dieser Goran Jankovic (Slavo Popadic) nicht unbedingt aus. Darüber hinaus verbindet ihn sogar etwas mit seinen beiden Opfern: Auch er ist im Begriff zu heiraten, ja, zur Stunde des Blutbads ist er sogar Vater geworden. Ein Junkie-Killer mit menschlichen Zügen also.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
„Alles auf Rot“ – das ist ein narratives (Blut!) und ikonografisches Versprechen: Vorspann und Abspann sind rot eingefärbt. Zu Beginn sieht man die Schauspieler, die Becker so sehr liebt und deshalb gern featured, quasi Vintage-like graphisch in Blut getränkt. „Alles auf Rot“ – das klingt auch nach Roulette und passt entsprechend nicht schlecht zur Philosophie von Lars Beckers Polizeifilmen: das Leben ein Glücksspiel; auf welcher Seite zu stehst ist oft Zufall, und nur gut oder nur böse, nur moralisch oder nur korrupt ist keine Option für die Charaktere seiner Krimis. Die vier Filme um das Hamburger Buddy-Duo sind härter und weniger ironisch als seine wegweisende „Nachtschicht“-Reihe. Der neue Film wirkt trotz einiger bisweilen blutiger Schlägereien weniger aktionsgeladen als seine Vorgänger, trägt dafür verstärkt melancholische Züge. Das liegt an Kessel, den Fritz Karl mehr denn je als einen undurchschaubaren, aber nicht unsympathischen Mann verkörpert, der – nun erstmals völlig clean – sein Verhalten offenbar nach einem strikten Ehrenkodex ausrichtet. Darin erinnert er an die lakonischen Anti-Helden aus den französischen Polizeifilmen der sechziger, siebziger Jahre. Dabei dürfte der Corona-Faktor den Stil des Films positiv beeinflusst haben. Leere Straßen, eine Bar, in der nur auftaucht, wer auch etwas zur Handlung beiträgt, diese schöne Klarheit sorgt für eine Reduktion, die ikonografisch an die existentialistischen Tragödien von Jean-Pierre Melville („Der eiskalte Engel“) erinnert. Die Kameraansichten von oben deuten es an: Der Mensch ist eine kleine Nummer, ziemlich verloren in dieser Welt. Natürlich macht Lars Becker Fernsehen und nicht Kino, aber seine Krimis öffnen filmische Räume, die man immer seltener in den zu Tode formatierten Reihen zu sehen bekommt und die vielen Zuschauern leider auch in den anspruchsvollen Arthaus-TV-Krimis oft versperrt bleiben.
So richtig deutlich wird der Wert der coolen Kessel-Diller-Krimidramen, die ihren Ursprung haben in dem Roman „Unter Feinden“ von Georg M. Oswald (verfilmt 2013), erst im Rückblick und im Kontrast zu einer Krimiunkultur, die jedes Misthaufenkaff fürs Genre entdeckt, die deutsche Schauspieler*innen zu Dänen, Franzosen, Portugiesen oder Irländern macht, die Handlungen und sogenannte „Wendungen“ für stereotype Whodunits anhäuft, damit die neunzig Minuten vollgemacht werden können. Da lobt man sich doch Beckers Konzentration auf das Wesentliche und die vielen, kleinen liebevollen Details. In „Alles auf Rot“ gibt es keine überflüssige Szene, dafür umso mehr Momente, an die man sich gern erinnern wird: das telefonisch angekündigte Blutbad im Off zu Beginn, das coole Geplänkel am Tresen, an dem Diller und Kessel – ohne es zu wissen – früh dem Killer begegnen, der Ge-dankenaustausch zwischen Barmann und Prostituierter oder nur dieser eine Blick, den Jessica Schwarz in Anwesenheit jener Debbie ihrem Filmgatten zuwirft („Sind das die Frauen, von denen du träumst?“). Wie alle Lars-Becker-Krimis vergeht auch dieser Film wie im Fluge. Und schon haben wir das Schluss-Tableau, das an große Krimi-Momente gemahnt. Häufig ahnt nicht nur der Zuschauer, der Lars Beckers Filme und seine Vorbilder kennt, was kommen wird. Allerdings kommt es dann doch immer ein bisschen anders. (Text-Stand: 21.10.2021)