Die junge Alice (Nina Gummich) sitzt am Meer und träumt von morgen. Journalistin will sie werden, sich schreibend Feinde machen, weiterhin furchtlos sein. Schöne Idee. Bevor der Kampf beginnt, schwelgt der ARD-Zweiteiler „Alice“ in pastellfarbenen Strandbildern und kinoreifen Paris-Sequenzen. Mal laufen Alice und ihr Freund Bruno (Thomas Guené) wie Jules und Jim durch die Passagen, mal schwebt die Kamera vom Dachfenster aus von ihr fort und gibt den Blick frei über die Dächer der Stadt. Die fabelhafte Welt der Amélie und das Akkordeon spielt dazu. Ist das kitschig? Ja. Aber es hilft, den Kopf freizukriegen. Es hilft, die fiktive „Alice“ von den Attributen ihrer Namensgeberin Alice Schwarzer zu befreien. Nina Gummich verkörpert ein junges Au-Pair-„Mädchen“, das weiß, was es will. C`est ca, sagt dieser Filmbeginn. Außerdem ist jetzt schon nicht alles eitel Sonnenschein. Ihren Text für die Münchner Journalistenschule schreibt Alice während neben ihr eine Freundin nach illegaler Abtreibung beinahe verblutet. Noch wackelig auf den Beinen kehrt diese Freundin am nächsten Morgen zu ihrem unwissenden Liebhaber zurück. Alice staunt. C`est ca.
Drehbuchautor Daniel Nocke („Ende der Saison“, „Dutschke“, „Eine fremde Tochter“) hat diese frühe Alice nach Gesprächen mit Alice Schwarzer entworfen und auf den Weg gebracht. Nina Gummich gibt ihr ein Gesicht, beherrscht ihren Sprachduktus, ihr Mienenspiel, auch ihren eher entschlossenen als eleganten Auftritt. Sie spielt Alice als nüchtern kombinierende, schnell schreibende und vor allem lustige Person. Nocke und Gummich statten Alice mit unverwüstlichem Humor aus. Er wird sie durch dunkle Tage tragen. Schon während ihrer ersten durchtippten Nächte verwandeln sich die Boulevards von Paris peu à peu in Protestmeilen. Um den gesellschaftlichen Aufbruch jener Jahre zu bebildern, streut Regisseurin Nicole Weegmann („Ihr könnt euch niemals sicher sein“, „Das Leben danach“) zu Beginn ein paar Dokumentaraufnahmen aus dem Paris der Sechziger in die Spielfilmhandlung ein. Mit dem Erstarken der Studentenproteste und dem Aufbruch der feministischen Bewegung gewinnen diese Doku-Einsprengsel an Gewicht, übernehmen aber (genauso wie ein paar gut platzierte Songs der Zeit) nie die Hauptrolle oder eine Erzählfunktion. Sie sind Erinnerungsstütze und Wiedererkennungseffekt. Parallel zur zwischen Paris und Deutschland pendelnden Alice dokumentieren sie vor allem die unterschiedliche Geschwindigkeit, in der die Protestbewegungen die Menschen in Frankreich und Deutschland erfassten.
Wie weit man Ende der 1960er-Jahre in Deutschland ist, erfährt Alice an der Münchner Journalistenschule, bei den Düsseldorfer Nachrichten und im Frankfurter Satiresalon von „Pardon“. Mit offener Ablehnung, Belehrungen nach Gutsherrenart oder süffisanten Kommentaren treiben sie die Herren Chefredakteure zurück nach Paris. Unter den KollegInnen von „Charlie Hebdo“ findet sie ihr Lachen wieder, die Berichterstattung des „Nouvel Observateur“ zur Abtreibungsdebatte imponieren ihr. Im Frühjahr 1971 der zweite Anlauf: Mit 374 Unterschriften sitzt sie Henri Nannen (wunderbar hanseatisch-arrogant: Sven-Eric Bechtolf) gegenüber. Alice bleibt hartnäckig und gewinnt den Deal um ein Titelbild mit mehreren Frauenporträts statt dem Gesicht von Romy Schneider. Die echte Alice Schwarzer betrachtet den Stern-Titel „Wir haben abgetrieben“ als Geburtsstunde der deutschen Frauenbewegung. Im Film ist es der Moment, in dem Alice in Deutschland ankommt.
Soundtrack:
(1) Francoise Hardy („Comment te dire adieu“), Matti Rousse („Change of Mind“)
(2) Janis Joplin („Cry Baby“), Patti Smith („My Generation“)
Mit einer Naheinstellung auf Alices Gesicht in der Maske des WDR beginnt Teil 2. Nach eineinhalb Stunden weiß der Zuschauer ziemlich genau, was sich hinter dieser Stirn abspielt. Bewusst zögert Alice ihren Auftritt beim TV-Streitgespräch mit Esther Vilar (Katharina Schüttler) heraus. Sie hat gelernt, dass Machtdemonstrationen in den Medien dazugehören. Für alle, die der gebauten TV-Geschichten um verkannte weibliche Kämpfernaturen müde sind (Nina Gummich spielte in Staffel 3 von „Charité“ mit der Figur Dr. Ella Wendt eine dieser Paraderollen) beginnt mit dem zweiten Teil das spannendere Kapitel der Geschichte. „Alice“ lässt den Zweikampf mächtiger Mann gegen verkannte Frau hinter sich. Jetzt geht es um die Positionskämpfe unter Frauen. Endlich kehren jetzt auch Zweifel, Trauer und Einsamkeit ein. Ein letztes Mal scheitert der Vertrag mit einem etablierten Blatt, diesmal am Veto der Spiegel-Redakteure. Zum Alleingang gezwungen fordert Alice Feminismus statt Klassenkampf, Journalismus statt Flugblätter, Mut statt Sicherheit. Nur wenige Frauen gehen mit. Viele werfen ihr vor, keine neben sich zu ertragen. An diesen Kämpfen scheitert auch ihre neue Liebe zu Ursula (Katja Fellin) und ein Leben in Berlin. Vom Autorinnenkollektiv der „Courage“ beschimpft, geht Alice Schwarzer 1976 nach Köln und gründet „Emma“.
Das tiefe Tal ist der Schauplatz, an dem der Film sich noch einmal ganz auf seine Hauptperson besinnt. Angedeutet wird Alices Dilemma in einem Dialog mit Christiane Ensslin, die sie bei der Redaktionsarbeit in Köln unterstützt. Leider bleibt es bei diesem einen Dialog. Statt einer Entwicklung und Auseinandersetzung mit ihrem Unvermögen im Team zu arbeiten, rekurriert die Erzählung auf Einsamkeit als Schicksal der Begabten. Der Tod von Alices Katze symbolisiert die Ankunft „ganz unten“. Der Tonalität der Erzählung widersprechend, wirkt schließlich auch eine mystifizierte Interview-Begegnung mit Romy Schneider (Valerie Pachner). Man hat sich daran gewöhnt, dass diese Ikone im deutschen (TV-)Film nur noch übergroß leidend präsent ist. Dem in knapp drei Stunden sorgfältig entworfenem Charakter der Alice-Figur schadet der geheimnisumwobene Pakt zwischen den „zwei meistgehassten Frauen Deutschlands“ eher. Es spielt wieder das Akkordeon und es schmeckt allzu sehr nach Pathos.
Bis heute gilt die „Emma“ als Lebenswerk von Alice Schwarzer. Bis heute hielt sich keine andere Frau länger als zwei Monate an der Spitze der Redaktion. „Emma“ hat als Nischen-Produkt überlebt, kämpft – wie viele Blätter – mit einer dramatisch schwindenden Auflage. Alice Schwarzer dagegen ist eine Marke im Mainstream. Unkaputtbar, unsäglich, unbeirrbar – das mag jede(r) selbst entscheiden. Weiterschauen kann helfen: Neben dem Spielfilm „Alice“ zeigt die ARD Tita von Hardenbergs Dokumentation „Die Streitbare – Wer hat Angst vor Alice Schwarzer?“ (30.11., 23.50 Uhr) und Luzia Schmids dreiteilige Doku-Serie „Ungewollt schwanger in Deutschland – Der Paragraf und ich“ (Teil 1 am 21.11., 23.50 Uhr, ab 19.11. alle drei Teile in der ARD-Mediathek). Seit 15. September läuft außerdem Sabine Derflingers Porträt „Alice Schwarzer“ im Kino. Wie „Alice“-Regisseurin Nicole Weegmann betrachtet auch Derflinger vor allem die Anfangsjahre der Jubilarin, die am 3. Dezember 80 Jahre alt wird. Was fehlt, ist ein aktuelles Streitgespräch mit Frauen, die halb so alt sind.