Eisenbahn-Filme bilden längst ein eigenes Genre, das von frühen Klassikern wie „Der General“ mit Buster Keaton bis zu modernen Sci-Fi-Spektakeln wie „Snowpiercer“ reicht. Kein Wunder, Eisenbahnen eignen sich hervorragend als filmischer Schauplatz, weil sie ein zugleich dynamischer wie klar begrenzter Handlungsort sind. Und: Im Zug begegnet sich ein Querschnitt der Gesellschaft. So auch in „3 ½ Stunden“, dem historischen Ensemble-Drama, das Regisseur Ed Herzog (bekannt für seine Kino-Komödien nach Rita Falks Eberhofer-Krimis) nach einem Drehbuch von Robert Krause („Unsere wunderbaren Jahre“, „Colonia Dignidad“) und Beate Fraunholz inszenierte. Der Film mit seinen fiktiven Figuren hat einen realen Kern: Krauses aus Dresden stammende Großeltern waren tatsächlich am 13. August 1961 von Bremen aus auf dem Weg in die Heimat, als sich während der Zugfahrt die Nachricht verbreitete, dass die DDR-Führung in Berlin eine Mauer errichten lässt und also die Grenzen schließen will. Der Titel „3 ½ Stunden“ bezieht sich auf die Fahrtzeit, die den Reisenden im Film bleibt, die existenzielle Entscheidung zu treffen: In der DDR bleiben oder alles hinter sich lassen und im kapitalistischen Westen einen Neuanfang wagen?
Von Beginn an bemüht sich Herzogs Inszenierung um eine moderne, anschlussfähige Erzählweise. Vier junge Musiker, drei Männer und eine Frau, wachen morgens im selben Bett auf, als schreibe man das Jahr 1968 und nicht 1961. Hastig packen sie ihre Sachen und machen sich überstürzt auf den Weg. Am Münchner Hauptbahnhof steigt die Band am Vormittag des 13. August 1961 ebenso in den Interzonenzug nach Ost-Berlin wie ein altes Ehepaar und eine Familie mit zwei Kindern. Alle sind auf dem Weg zurück in ihre Heimat, in die DDR. Außerdem entert ein unüberhörbar bayrischer Kommissar mit seinem aufgeregten Assistenten den Zug. Dank der ungeschnittenen, zwei Minuten dauernden Eingangsszene im Bahnhof nimmt der Film schon Fahrt auf, bevor sich der Zug in Bewegung setzt.
Im Zug kommen weitere Protagonisten hinzu: Ein Paar um die 40 ist mit dem jungen, dunkelhäutigen Hans (Zacharias Bullien), dem Sohn von Ingrid Born (Katrin Filzen) aus einer früheren Beziehung, auf dem Weg zur eigenen Hochzeit in Ludwigsstadt, der letzten Station im Westen. Sasha (Jeff Wilbusch), der Gitarrist aus der Band, scheint den designierten Ehemann, Rudolf Hoffmann (Peter Schneider), zu erkennen. Und Kommissar Arthur Koch (Martin Feifel), der im Zug nach Beweisen für den mysteriösen Tod von drei jungen Männern sucht, schneit nach einer Weile in ein Abteil hinein, in der die ostdeutsche Turn-Trainerin Christa Hartmann (Jördis Triebel) und ihr Schützling Sabine Schulz (Hannah Schiller) sitzen. Zwei Neben-Schauplätze in der DDR ergänzen den deutsch-deutschen Mikrokosmos im Zug: Im Bahnwerk Probstzella tritt die junge Lokführerin Edith Salzmann (Luisa-Céline Gaffron) ihren Dienst an. Sie soll später den Interzonenzug in Ludwigsstadt mit ihrer Dampflok übernehmen und bis nach Ost-Berlin steuern. Filmemacher Kurt Blochwitz (Vincent Redetzki) soll für die Defa eine Dokumentation über Edith drehen – aus der Begegnung entspinnt sich die Love-Story am Rande. Und bei der Volkspolizei in Ost-Berlin hat Oberstleutnant Paul Fuchs (Uwe Kockisch) das Kommando bei der Sicherung der Mauer-Bauarbeiten. Auf seinem Schreibtisch steht ein Foto, auf dem seine Tochter Marlies (Susanne Bormann), sein Schwiegersohn Gerd Kügler (Jan Krauter) und deren Kinder (Klara Metten, Kolja Rashed) zu sehen sind – die vierköpfige Familie, die in München den Interzonenzug bestiegen hat.
Bei einem derartigen Mosaik aus zahlreichen, nahezu gleichberechtigten Rollen müssen die Figuren und ihre Geschichten zwangsläufig pointiert statt vielschichtig erzählt werden. Und obwohl das Drehbuch thematisch überladen scheint und auch noch eine im deutschen Fernsehen offenbar unvermeidliche Krimi-Nebenhandlung eingebaut wurde, hat „3 ½ Stunden“ nicht nur oberflächliche Dramatik zu bieten. Stark, wie Susanne Bormann und Jan Krauter das politisch zerstrittene und um seine Zukunft ringende Ehepaar spielen – auch der heftige Disput zwischen Marlies und Gerd über die deutsch-deutsche Teilung wirkt nicht didaktisch-gestelzt. Ebenfalls bewegend, am Ende melodramatisch und tragisch entwickelt sich die lange Zeit nebensächliche Geschichte des alten Ehepaars, das sich zeitweise der Kügler-Kinder annimmt, damit die Eltern in Ruhe miteinander streiten können (auch schön: Für die Kinder gibt’s Wackelpudding im Mitropa-Speisewagen). Anna Melchior (Birgit Berthold) hätte gerne ihren in den Westen geflüchteten Sohn besucht, doch ihr Mann Ernst (Harry Täschner) schaltet auf stur.
Einigen Darstellerinnen und Darstellern gelingt es, ihren Figuren mit wenigen Strichen Profil zu verleihen: Wie Jördis Triebel als strenge, dauerqualmende Trainerin und Hannah Schiller als am Ende überraschend selbstbewusstes Turn-Talent. Oder Uwe Kockisch, der, unbeweglich am Schreibtisch hockend, militärischen Befehlston und unterdrückte Vatersorge verbinden muss. Steffi Kühnert, die ab und zu als Untergebene, aber persönliche Vertraute im Büro des Oberstleutnants Fuchs auftaucht, hilft dabei. Währenddessen nimmt direkt unter dem Fenster der Ost-Berliner Polizei-Zentrale der Lärm, den die Arbeiten beim Mauerbau verursachen, stetig zu. Großartig übrigens die Schluss-Einstellung, die man wohl als vielsagende Metapher verstehen darf. Im Zug selbst gelingt eine dynamische Mischung der Episoden. Die Protagonisten sind häufig in Bewegung, treffen sich in den Abteilen, in den Gängen und natürlich im Speisewagen, der zu einem besonderen Ort wird: als Nachrichten-Treffpunkt und musikalische Bühne.
Erfrischend auch, dass mit dem jungen Hans eine dunkelhäutige Figur wie selbstverständlich und ohne weitere Problematisierung im Ensemble ist. Allerdings könnte man kritisieren: Es ist für jeden etwas dabei. Homosexualität, die Gleichberechtigung von Frauen, Judenverfolgung und Nazi-Vergangenheit, Stasi und Sport-Doping. Das Drehbuch „arbeitet“ zeitgeschichtliche Konfliktstoffe immerhin nicht künstlich aufgesetzt ab, sondern verbindet sie mit dem Handlungskern. So verlangt die Frage, ob man in den Westen übersiedeln soll, dem schwulen Musiker-Paar (Johannes Meister, Karl Scharper) eine besondere Abwägung ab, denn Homosexualität ist in der BRD 1961 strafbar. In der DDR gab es zwar noch den Paragrafen im Strafgesetzbuch, der aber wohl nicht mehr oder nur noch selten angewendet wurde. Und für die Familie Kügler stellt sich das Problem, dass die technisch begabte Tochter, die ein Radio reparieren kann und von einer Zukunft als Pilotin träumt, im Westen womöglich weniger Chancen hat. Denn für Frauen im Westen ist es in den 1960er Jahren noch weitaus weniger selbstverständlich, berufstätig zu sein, als in der DDR.
Den Zeitkolorit trifft der Film auch mit O-Tönen (Radio-Reportagen vom Tag des Mauerbaus; Ansprache von Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von West-Berlin) und mit der ausgezeichneten Ausstattung, wobei der Mief einer Interzonenzugfahrt in den 1960er Jahren wohl eher nicht getroffen wird. Sogar der Mitropa-Kellner ist freundlich. Für noch mehr Eisenbahner-Romantik sorgt die Dampflok, an der Edith ölverschmiert herumschraubt und die tatsächlich in Bewegung gesetzt wird – im Gegensatz zum Interzonenzug, an dem die digital erzeugte Landschaft nur an den Fenstern vorbeizieht. Gedreht wurde in drei Waggons, die in einer Gleishalle des Deutschen Dampflokomotiv-Museums in Neuenmarkt/Bayern aufgestellt werden konnte.
Eine besondere Note erhält der Film durch die Musik der Sängerin Alli Neumann, die hier durchaus ansehnlich die Band-Frontfrau Carla Engel spielt. Gemeinsam mit zwei Freunden hat Neumann drei Songs geschrieben, die den Sound des Aufbruchs in den 1960er Jahren vorwegnehmen und die die fiktive Ost-Band während der Reise im Speisewagen zum Besten gibt. Insbesondere die „Live-Musik“ soll den angestrebten „Brückenschlag ins Heute und zur jüngeren Generation“ (Degeto-Redaktionsleiter Christoph Pellander) erleichtern. Im Film sind die Lieder überraschende Inseln, die die realistische Anmutung für kurze und – dank Alli Neumanns schöner Stimme – angenehme Zeit aufbrechen. Eine Unsitte ist es dagegen, im Abspann mit einem Pseudo-Doku-Trick den Eindruck zu erwecken, als seien die fiktiven Figuren reale Personen. Auch wenn die Fotos in den abgebildeten Personalausweisen erkennbar die jeweiligen Schauspielerinnen und Schauspieler sind, werden das wohl manche Zuschauer missverstehen. (Text-Stand: 4.7.2021)