2 unter Millionen

Mommsen, Brennicke, Böwe, Kurzawa/Kratochvil, Tiefenbacher. An den Loser glauben

Foto: Degeto / Boris Laewen
Foto Rainer Tittelbach

Wie ein Lotteriegewinn von einer Million Euro zur Last werden kann, davon erzählt der ARD-Freitagsfilm „2 unter Millionen“ (Aspekt Telefilm). Ein Hamburger Paketbote ist der Glückliche. In der Liebe hat er allerdings Pech: Seine Frau will die Scheidung – und er denkt nicht daran, ihr die Hälfte vom Geld abzugeben. Deshalb darf niemand etwas von dem Lotteriegewinn erfahren. Und so betrügt er nicht nur seine Frau, sondern belügt auch seine Tochter und seine besten Freunde. Diese tragikomische Dilemma-Situation, die auch moralische Fragen aufwirkt, treibt die höchst unterhaltsame, etwas märchenhafte Dramödie an. Das Drehbuch ist dicht: Nach und nach sind alle Figuren in den Plot um die gewonnene und verheimlichte Million involviert. Der Film von Matthias Tiefenbacher besitzt ein gutes Tempo und eine positive Ausstrahlung, die Inszenierung ist flott und die Hauptfigur viel in Bewegung. Dass diese doch sehr ausgedachte Geschichte sich wie selbstverständlich erzählt, das ist auch der großartigen Besetzung zu verdanken: Oliver Mommsen als ambivalenter Sympathieträger, Nadeshda Brennicke mal als „normale“ Frau, Jule Böwe gewohnt bodenständig und dazu Anne Schäfers charmantes Lächeln.

„Mir ging’s noch nie so beschissen“, beklagt Henry Lafers (Oliver Mommsen) seinen Zustand. Dabei schien dieser Hamburger Paketbote vor kurzem noch mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Mag dieser Beruf möglicherweise unter seinen Möglichkeiten liegen, so war er doch stets zufrieden mit seinem Leben: Seine Frau Ellen (Jule Böwe) und er sind seit 21 Jahren ein eingespieltes Team, ihre gemeinsame Tochter Floh (Anna-Lena Schwing) ist wohlgeraten und will Journalistin werden. Seinen nervigen Chef (Tristan Seith) weiß er zu nehmen, und auf der Arbeit hat er zwei echte Kumpels, Mehmet Buballa (Kailas Mahadevan), mit dem er seine große Leidenschaft teilt, das Pferderennen, und seine „Lieblingskollegin“ Mona (Nadeshda Brennicke), die zwar wenig für die Rennbahn übrighat, dafür umso mehr für ihn. Und dann ereignet sich sogar noch das Unfassbare, es erfüllt sich für ihn der Traum von Millionen Menschen: Der stets klamme Paketbote gewinnt in der Lotterie 999.999.98 Euro. Nur dummerweise hat sich Ellen in einen Kollegen verliebt, zieht aus und will die Scheidung. Getroffen, ja emotional verletzt, will Henry seiner Frau von der Million nichts abgeben. Da ihre Ehe eine Zugewinngemeinschaft ist, glaubt er, die Scheidung verhindern zu müssen. Vor allem darf er niemandem von dem Lotterie-Gewinn erzählen, muss seine Familie und seine Freunde belügen. Und weil dies einen Mann, der eigentlich nett sein möchte und es gern locker mag, belastet, fühlt er sich so „beschissen“.

2 unter MillionenFoto: Degeto / Boris Laewen
Die Drei von der Paketdienststelle: Gegen ihren Chef halten sie zusammen, als Henry (Oliver Mommsen) allerdings Lotteriemillionär wird, verändert er sich nicht zum Besten. Er würde sich gern anders verhalten, aber er muss seinen besten Freund (Kailas Mahadevan) und seine „Lieblingskollegin“ (Nadeshda Brennicke) anlügen.

Der ARD-Freitagsfilm „2 unter Millionen“ variiert die Klischee-Lebensweisheit „Geld allein macht nicht glücklich“ zu einer launigen Dramödie, bei der das Ende zwar genregemäß vorhersehbar ist, die aber bis dahin viele amüsante Wendungen bietet. So boykottiert die Hauptfigur geradezu ihren eigenen Vorsatz, den Lotteriegewinn vor allen geheim zu halten, indem sie sich nach einem Wink des Schicksals entschließt, einen Jugendtraum, wahr werden zu lassen: den „Großen Preis von Deutschland“ zu gewinnen. Das Pferd, das Henry Lafers sich dafür ausgesucht hat, ist ausgerechnet das, auf das er zuletzt immer wieder gewettet und das nach guten Anfangsrennen in den letzten Jahren nie mehr gewonnen hat. Ausgerechnet dieser Hengst „Feelgood“ steht nun zum Verkauf. Und der Paketbote hat das nötige Kleingeld. Da der Film von Matthias Tiefenbacher nach dem Drehbuch von Lothar Kurzawa und Claudia Kratochvil am Freitag im Ersten läuft, wo man gern dramaturgisch doppelt und Metaphern schmiedet, spiegelt das Vertrauen, das der Held dem als Loser abgekanzelten Pferd schenkt, selbstredend auch den Glauben an sich selbst. Am Ende kann dieser Henry im Glück wieder alles mit einem Lächeln nehmen. Sein augenzwinkernder Rat: „Immer an den Loser glauben.“

Der Film beginnt zwar bei der Arbeit und auch das Nebeneinanderherleben in einer Ehe wird durchaus realistisch dargestellt, dennoch besitzt „2 unter Millionen“ trotz dieser Nähe zum Alltag etwas Märchenhaftes. Allein der immens hohe Lotteriegewinn kommt selten vor in einem Leben und ist somit eher unwahrscheinlich. Das enthebt die Geschichte vom hierzulande gängigen Glaubwürdigkeits-Diktat. Mit einer solchen Geschichte im Konjunktiv lässt sich besser erzählen, was unter der narrativen Oberfläche liegt. Dieser Henry ist jedenfalls kein Hans im Glück. Er denkt gar nicht daran, alles, was er besitzt, zu verschenken. Im Gegenteil. Mag er bisher glücklich gewesen sein, mit dem Wenigen, was er materiell besaß, weil er seine Familie, seine Freunde und seine Rennbahn hatte, reicht ihm das jetzt nicht mehr. Der Goldrausch habe ihm das Hirn vernebelt, beschimpft ihn seine gute Freundin Mona, nachdem er ihr das große Geheimnis gebeichtet hat. Anfangs erzählt der Film von dem Dilemma des Helden. Die Zuschauer:innen sehen mit seinen Augen: sehen die Frau, die ihn betrügt, sehen die Freunde, die ihm nichts davon gesagt haben, obwohl sie von der Affäre wussten. Doch dann weitet sich der Zuschauerblick: Man erkennt, dass diese Ehe nicht zu retten ist, man versteht Ellen, sieht eine Frau, die fair sein will und sich um ihren Noch-Ehemann sorgt. Im Buch ist das gut, da beiläufig entwickelt. Mona hat also recht, wenn sie Henry vorhält: „Du mutierst gerade zu einem riesengroßen Arschloch“.

Wer will, kann in dieser Degeto-Produktion mehr (Tief-)Sinn sehen als für gewöhnlich in anderen Unterhaltungsfilmen hierzulande. Auch der Beruf des „15 Cent über Mindestlohn“ bezahlten Paketboten ist in Zeiten des Online-Handels nicht nur von immer größerer gesellschaftlicher Relevanz, sondern lädt – auch wenn der Film im Gegensatz zum Grimme-Preis-gekrönten ARD-Drama „Geliefert“ mit Bjarne Mädel ohne explizite Sozialkritik auskommt – zu Konnotationen ein: beispielsweise der Paketbote als Medium des Kapitalismus, als Erfüllungsgehilfe von Konsumwünschen, als Bote aus dem unendlichen Reich der Warenwelt. Dass in der Geschichte ausgerechnet so einer die Million gewinnt, ist kein Zufall. „Ich bin nur ein einfacher Mann mit einem viel zu großen Traum“, so sieht sich Henry selbst. Ein Mann, der allein im Affekt urplötzlich unmoralisch und egoistisch handelt. Die Weichen für ein Happy End sind früh gestellt (zumindest was die Familie angeht), nicht als konventionelles dramaturgisches Muster, nein, das glückliche Ende ist in den Charakteren selbst angelegt. Das ist eine der Stärken des Films.

2 unter MillionenFoto: Degeto / Boris Laewen
Paketbote Henry Lafers (Oliver Mommsen) backt kleine Brötchen und nimmt das Leben, wie es kommt. Selbst mit seinem nervigen Chef (Tristan Seith) kommt er klar.

Zu den weiteren großen Pluspunkten von „2 unter Millionen“ gehört die Besetzung. Ob Mann oder Frau – jeder wird diesen gebeutelten Millionär verstehen, weil ihn Oliver Mommsen so grundsympathisch spielt, dass Lafers moralische Schwächen zwar erkennbar werden, aber die Identifikation nicht beeinträchtigen dürften. Schön auch, Nadeshda Brennicke mal als „normale“ Frau zu sehen, weder raffiniert, undurchsichtig oder geheimnisvoll, entsprechend ohne mimische Manierismen. Jule Böwe ist immer eine gute Wahl; als Ellen erdet sie die Beziehung, zieht die Ehekrise auf eine ernsthafte, realistische Ebene. Und auch Anne Schäfer ist in jedem Film eine Bereicherung: Ihre Rolle als die Frau, die „Feelgood“ verkauft, ist zwar vergleichsweise klein, sorgt aber – forciert von einem charmant verschmitzten Lächeln – für eine gewisse zwischenmenschliche Spannung: Ob diese auch erotischer Natur ist oder ob sich hier „nur“ zwei Seelenverwandte begegnen und jene Alexandra Ludwig in Zukunft die neue Mona wird, also Henrys „Lieblingsgestütsbesitzerin“, wird sich zeigen. Wiebei den meisten ARD-Freitagsfilmen ist die Geschichte von „2 unter Millionen“ zwar keine, die erzählt werden muss, aber wie sie erzählt wird, das hat Klasse. Das Drehbuch ist ungemein dicht: Nach und nach sind alle Figuren – ohne es selbst zu wissen – in den Plot um die gewonnene und verheimlichte Million involviert. Der Film besitzt ein gutes Tempo und eine positive Ausstrahlung, die Inszenierung ist flott und die Hauptfigur die meiste Zeit in Bewegung. Das entspricht dem Motiv Pferderennen inklusive den Szenen auf der Trabrennbahn. Und am Ende geht alles auf. Es gibt Filme, bei denen ein solches Ende nervt. Hier nicht. Der Name des Hengsts bringt alles auf den Punkt: „Feelgood“. (Text-Stand: 18.12.2022)

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Oliver Mommsen, Nadeshda Brennicke, Jule Böwe, Kailas Mahadevan, Anne Schäfer, Anna-Lena Schwing, Tristan Seith, Wolf-Dietrich Sprenger

Kamera: Hanno Lentz

Szenenbild: Florian Langmaack

Kostüm: Anette Schröder

Schnitt: Horst Reiter

Musik: Biber Gullatz, Andreas Schäfer

Redaktion: Stefan Kruppa, Christoph Pellander

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm

Produktion: Markus Trebitsch, Annett Neukirchen

Drehbuch: Lothar Kurzawa, Claudia Kratochvil

Regie: Matthias Tiefenbacher

Quote: 4,21 Mio. Zuschauer (15,2% MA)

EA: 13.01.2022 20:15 Uhr | ARD

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