Winterreise

Bruno Ganz, Goldsmith, Østergaard, Rácz. Eine Geschichte von Musik, Liebe und Tod

Foto: NDR / Günther Goldsmith
Foto Tilmann P. Gangloff

In dem Doku-Drama „Winterreise“ erfährt ein Sohn endlich, warum sein 1941 emigrierter Vater in Amerika nie glücklich geworden ist. Der Film ist die letzte Arbeit von Bruno Ganz, er hat maßgeblichen Anteil daran, dass die Handlung nie ermüdet, obwohl sie über weite Strecken aus einem Zwiegespräch besteht. Regisseur Anders Østergaard hat das Drehbuch gemeinsam mit Martin Goldsmith geschrieben, Vorlage war dessen Buch „Die unauslöschliche Symphonie“, in dem er seinen deutschen Wurzeln nachspürt. Østergaard illustriert die Erzählungen des alten Mannes auf kunstvolle Weise mit Aufnahmen aus der Zeit des „Dritten Reichs“.

Ein Mann im Zwiegespräch mit seinem Vater, und das knapp neunzig Minuten lang: „Winterreise“ hätte ein äußerst ermüdender Film werden können; trotz des faszinierenden Themas. Tatsächlich führen die Amerikaner Martin und George Goldsmith eine Unterhaltung, wie sie nur wenigen Söhnen vergönnt gewesen ist: weil die meisten Väter nie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus gesprochen haben; ganz gleich, ob sie Täter oder Opfer waren. George Goldsmith hieß früher Günther Goldschmidt. Es ist dem einstigen Flötisten gelungen, Deutschland im Sommer 1941 gemeinsam mit seiner Frau zu verlassen und in die USA auszuwandern. Auf der Suche nach seinen Wurzeln erfährt sein Sohn Martin, warum George, der doch offenbar Glück im Unglück gehabt hat, nie wieder musiziert hat und in den USA nicht glücklich geworden ist.

Der Film basiert auf Martins Goldsmiths Buch „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte“. Der Amerikaner hat gemeinsam mit Regisseur Anders Østergaard das Drehbuch geschrieben und wirkt auch selbst mit, allerdings nur akustisch: Er stellt die Fragen, auf die sein Vater antwortet; zu sehen ist er jedoch nie. Der Däne Østergaard wiederum ist ein erfahrener Dokumentarfilmer, und dieser Ansatz prägt auch sein jüngstes Werk. Trotzdem ist „Winterreise“ eher ein Spielfilm, und das liegt in erster Linie an Bruno Ganz. Der im Februar 2019 verstorbene Schweizer hat sich seine Rolle derart angeeignet, dass die Gesprächspassagen tatsächlich dokumentarisch wirken; wer ihn nicht kennt, wird wirklich glauben, dass hier ein Sohn mit dem leibhaftigen Vater redet. Das Gesicht des Schauspielers spiegelt die Erinnerungen wider, das Glück mit Ehefrau Rosemarie wie auch das spätere unermessliche Leid: Die Nationalsozialisten haben seine komplette Familie ausgelöscht. Bruno Ganz beantwortet Martins Fragen in amerikanischem Englisch, fällt aber zwischendurch immer wieder ins Deutsche.

WinterreiseFoto: NDR / Günther Goldsmith
Østergaard illustriert die Erzählungen des alten Mannes (1996) mit zeitgenössischen Aufnahmen aus der Zeit des „Dritten Reichs“.

Ähnlich faszinierend wie der Hauptdarsteller ist Østergaards Konzept, selbst wenn es sich auf den ersten Blick am üblichen Schema des Dokudramas orientiert: Der Regisseur illustriert die Erzählungen des alten Mannes – die Rahmenhandlung spielt 1996 in Arizona – mit zeitgenössischen Aufnahmen aus der Zeit des „Dritten Reichs“; aber das macht er auf ungemein kunstvolle Weise. Die erste Zeitreise findet in den Sechzigerjahren statt, als George seiner Familie das einstige Elternhaus in Oldenburg zeigen will. Diese Rückblende ist eine eindrucksvolle Montage aus echten Bildern jener Jahre mit neu gedrehtem Material. Bei Georges Erzählungen aus den Dreißigerjahren ist Østergaard anders vorgegangen: Hier lässt er das von Leonard Scheicher verkörperte junge Alter Ego des Erzählers durch täuschend authentisch wirkende nachgestellte Fotografien wandern. Das Ergebnis ist verblüffend, erst recht, wenn auf einem Orchesterbild vor dem Fenster plötzlich Flammen in die Höhe schlagen: Draußen verbrennen die Nazis Bücher. Ein anderer visueller Effekt ist dagegen beinahe rührend, weil er wie ein Trick aus den Anfängen des Kinos wirkt: Als George berichtet, wie er mit 14 beim Besuch der „Zauberflöte“ den Entschluss gefasst hat, Musiker zu werden, lässt der Regisseur das Opernensemble über Deutschland fliegen. Gegen Ende greift er das Bild wieder auf; nun liegt das Land in Trümmern.

Günther hat die Musikhochschule in Karlsruhe besucht, musste das Studium jedoch 1935 abbrechen, als die Nationalsozialisten die sogenannten Nürnberger Rassengesetze erließen. Seine musikalische Heimat wurde nun der Jüdische Kulturbund, dort traf er auch Rosemarie. Weil Günthers Werdegang eng mit dem Kulturbund verknüpft war, erzählt der Film zugleich die Geschichte dieser in Vergessenheit geratenen Künstlervereinigung. Die Selbsthilfeorganisation wurde von den Faschisten aus politischen Gründen geduldet: Man glaubte, die Mitglieder auf diese Weise kontrollieren zu können; außerdem galten die Veranstaltungen, die nur von Juden besucht werden durften, gegenüber dem Ausland als Beleg dafür, dass jüdische Künstler keineswegs unterdrückt würden. “ Die Stücke, die Günther erwähnt, bilden die Musik des Films.

Wenige Monate nach der Ausreise von Günther und Rosemarie wurden der Kulturbund aufgelöst und seine Mitglieder in Konzentrationslager verschleppt. George rechtfertigt seine Mitwirkung gegenüber dem Sohn mit dem Satz „Wir waren jung und wollten einfach nur spielen.“ Die Realität hat er damals wohl ausgeblendet, obwohl sein Berliner Vermieter (Dani Levy in einer Gastrolle) schon 1938 prophezeit hat: „Wir werden alle verbrannt!“ Seinen Titel verdankt der vom NDR koproduzierte Film Franz Schuberts gleichnamigem Liederzyklus. Gleich zu Beginn singt der Vater zwei Zeilen, die sein Dasein in Amerika perfekt beschreiben: „Fremd bin eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“ (Text-Stand: 30.10.2023)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kinofilm

NDR

Mit Bruno Ganz, Martin Goldsmith, Leonard Scheicher, Dani Levy, Harvey Friedmann, András Bálint, Izabella Nagy

Kamera: Henner Besuch

Szenenbild: Ute Hintersdorf

Kostüm: Gudrun Leyendecker

Schnitt: Anders Villadsen

Produktionsfirma: Plus Pictures, Zero One Film

Produktion: Mette Heide, Thomas Kufus

Drehbuch: Anders Østergaard, Martin Goldsmith

Regie: Anders Østergaard, Erzsébet Rácz

EA: 23.11.2023 00:20 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach