Franka (Marie Leuenberger) und ihre 17jährige Tochter Lisa (Mina-Giselle Rüffer) versuchen im Schwarzwald einen Neuanfang. Das Mädchen leidet unter Wahrnehmungsstörungen und Schüttelkrämpfen; in der Schule wurde sie deshalb ständig gemobbt. Franka ist Kommissarin und übernimmt am neuen Wohnort die Polizeidienststelle. Von Natur und Ruhe verspricht sie sich für ihre Tochter Heilung. Doch dass es ausgerechnet Großstetten sein muss! Ein Amoklauf vor einem Jahr in der Schule, auf die nun auch Lisa geht, lastet auf dem Ort noch schwer. Eine Gedenkfeier erneuert das Trauma: Ein Polizist, der den Amoklauf nicht verarbeiten hat, nimmt sich während der Festlichkeiten das Leben. Der Schock darüber sitzt tief bei Paul Müller (Jürg Plüss), der beim Amoklauf Einsatzleiter war, und seinem Sohn Leon (Alessandro Schuster), oder bei Emre Sadik (Deniz Arora), einem befreundeten Kollegen des Selbstmörders, aber auch bei Schülern und Eltern, beispielsweise Davi (Esmael Agostinho), der ein Auge auf Lisa geworfen hat. Seine Mutter Janaina (Denise M’Baye) ist Psychotherapeutin – und offenbar die Einzige, die Lisa bei ihren Problemen helfen könnte.
Alle Charaktere in der ZDFneo-Serie „Was wir fürchten“ haben ihr Päckchen zu tragen. Mutter Franka wirkt souverän, will das Beste für ihr Kind und stellt dafür ihre Karriere hintenan; aber sie kann nicht wirklich auf Lisa eingehen, sie versteht die Emotionen des Teenagers nicht. Denn Lisas Beschwerden sind keine normalen Panikattacken. Das Mädchen hat Erscheinungen, besitzt offenbar die Gabe, Geister zu sehen, traut sich aber nicht, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Die Sorge um Lisa und die Distanz zu ihr belasten bei aller Liebe das Verhältnis der beiden. Lisa fühlt sich immer wieder unverstanden und allein. Diese Gefühlslage scheint auch Leon nicht fremd zu sein. Der junge Mann musste mit ansehen, wie beim Amoklauf seine Freundin erschossen wurde. Dass wiederum sein Vater den Amokläufer erschossen hat, schweißt Vater und Sohn zwar offenbar zusammen, doch Vieles zwischen ihnen bleibt unausgesprochen. Und dann ist da noch Simon (Paul Ahrens), der in einem noch existenzielleren Dilemma steckt: Sein Vater (Peter Jordan) ist ein strenggläubiger Gemeindevorsteher alter Schule. Als er herausfindet, dass sein Sohn homosexuell ist, verordnet der Kirchenmann ihm eine Konversionstherapie bei einem evangelikalen Therapeuten (Christopher Schärf). Doch die vermeintliche „Sünde“ lässt sich nicht so einfach austreiben. Der junge Mann will den Vater nicht enttäuschen, das verstärkt sein Leiden, später sind es die perfiden Methoden, die Simon verzweifeln lassen.
All‘ diese Belastungen werfen dramaturgische Fragen auf. Man will wissen: Was haben diese Geschichten gemeinsam? Was verbindet Lisa, Leon und Simon? Wann werden die Geheimnisse gelüftet? Neben solchen Spannungstreibern sind komplexe, anschlussfähige Themen in die Narration eingebunden: Mobbing unter Schülern, Ausgrenzung als pädagogische Strategie, der Glaube als Freibrief für unmenschliches Verhalten, beispielhaft dargestellt an einer sektiererischen religiösen Gemeinschaft, die verzweifelten Jugendlichen ihre Homosexualität abtrainieren will, notfalls mit Elektroschockbehandlung oder Schießübungen, die aus „Schwuchteln“ echte Kerle machen sollen. Eine mitunter aggressive Homophobie liegt über dem Schwarzwald. Keine schlechte Idee, das Erzählte in ein für deutsche Produktionen ungewöhnliches Genregewand zu verpacken. „Was wir fürchten“ arbeitet mit Krimi-, Mystery- und Horrorelementen, ohne dabei das Drama als narratives Fundament zu vernachlässigen: Die Konflikte erwachsen aus den jungen Charakteren und sie resultieren aus den Spannungen mit den Weltbildern und gesellschaftlichen Normen der Erwachsenen. Am Ende dürften dem Zuschauer sicherlich am nachhaltigsten die Schreckensmomente in Erinnerung bleiben. Die Figuren-Orientierung sorgt allerdings dafür, dass die zwischen Schock und Suspense, der Einstellungs-Länge und der Sichtbarkeit des Grauens wohl dosierten Effekte auch von Mitleid und dem Mitfiebern mit der jungen Frau mit dem zweiten Gesicht begleitet werden. Lisa sieht das, „was wir fürchten“. Sie blickt ins Reich der Toten. Ihr begegnen ekelhafte Dämonen, hässliche Fratzen, doch sind es letztendlich nicht eher (einige) Menschen, die Lisa fürchten sollte?!
Simon (Paul Ahrens) stößt an seine Grenzen. Mit Schießübungen sollen aus den „Schwuchteln“, wie ihre Väter sie nennen, echte Kerle gemacht werden. Auch Sex mit Frauen soll ihnen antrainiert werden. Die Konversionstherapie, die viele Jugendliche in den Selbstmord trieb, wurde erst Mitte 2020 bei Minderjährigen verboten. Horror und Mystery befreien Film- und Seriengeschichten vom Glaubwürdigkeitsdogma eines älteren deutschen Fernsehpublikums. Das tut sich mit dieser Art Populärkultur schwer, bei der Atmosphäre und Look oft wichtiger sind als (Psycho-)Logik. Allein der Quotengarant „Tatort“ lockte mit Filmen wie „Fürchte dich!“, dem Vampirkrimi „Blut“ oder dem Horrordrama „Parasomnia“ ein Millionenpublikum. Bei den Streamern und bei einem sehr jungen Publikum dagegen gehört Horror („American Horror Story“, „Spuk in Hill House“, „Midnight Mass“) neben Science-Fiction zu den beliebtesten phantastischen Genres. Um die öffentlich-rechtlichen Mediatheken für die 14- bis 29-Jährigen attraktiver zu machen, ist es deshalb naheliegend, mehr Wert auf Grusel- und Mystery-Stories zu legen, zumal diese auch eine besondere Affinität zum Coming-of-age-Subgenre („Carrie“, „Buffy“, „Wednesday“) besitzen. Wenn dabei spannende Unterhaltung mit psychologischem Mehrwert entsteht wie bei „Was wir fürchten“, umso besser.
Die ZDFneo-Serie, produziert von der Bavaria Fiction, ist keine Big-Budget-Produktion, Vergleiche mit den Hochglanz-Horror-Serials Marke Netflix sind daher eher unangebracht. Ohnehin fesselt „Was wir fürchten“ weniger durch monströse Oberflächen-Effekte des Grauens als vielmehr durch das narrative und inszenatorische Kombinationsgeschick, für das maßgeblich Regisseur und Koautor Daniel Rübesam („Dengler – Kreuzberg Blues“) und Headwriterin Judith Angerbauer („Die Neue Zeit“, „Das Boot“) verantwortlich sind. Eine Herausforderung ist diese empathische Mixtur aus Alltagsnähe und surrealem Genre, aus Krimi-Realismus und Geisterwelt, vor allem dann, wenn es um die „Auflösung“ geht. Doch auch die finale Folge übersteht die Serie ohne größere Glaubwürdigkeitsprobleme; es ist dramaturgisch ohnehin die dichteste. Fast alle Fragen werden in Bildern, mit Blicken statt erklärenden Dialogen, aufgelöst. Und die alles erklärende Schlüsselfunktion übernimmt der Erzählfaktor Zeit (konkreter sollte man nicht werden). Apropos: „Was wir fürchten“ hat zwar keine störenden Durchhänger, möglicherweise hätte sie mit vier Mal 45 Minuten oder sechs Mal 30 Minuten allerdings noch etwas konzentrierter und markanter erzählt werden können.