Wahrheit oder Lüge

Natalia Wörner, Hartmann, Karl, Klare, Lars Becker. Es gilt das gesprochene Wort

Foto: ZDF / Conny Klein
Foto Rainer Tittelbach

Eine Fachanwältin für Sexualrecht soll das Mandat für zwei sehr unterschiedliche Männer übernehmen: Der eine ist ein bekannter Gangsta-Rapper, der andere ist ein erfolgreicher Manager. Beide werden der Vergewaltigung bezichtigt. Lars Becker wollte keinen plakativen #MeToo-Film mit eindeutiger Opfer-Täter-Zuschreibung machen. Und „Wahrheit oder Lüge“ (ZDF / Network Movie) sollte ein Drama bleiben, das ganz ohne Krimi-Genre-Konventionen auskommt. Das ist dem „Nachtschicht“-Erfinder ausgesprochen gut gelungen. Neben der Klasse-Besetzung mit Natalia Wörner als taffer, sehr sachlicher Strafverteidigerin überzeugt der Film vor allem durch seine dramaturgische Umsetzung. So verzichtet Becker auf Rückblenden; die mutmaßlichen Missbrauchsfälle werden allein verbal präsentiert: Alle vier Personen, die in die beiden Fälle involviert sind, schildern die Ereignisse aus ihrer Sicht. Der Film ist ein Einzelstück, aber diese Annabelle Martinelli hat durchaus das Zeug zu mehr!

Annabelle Martinelli (Natalia Wörner), Fachanwältin für Sexualrecht, soll das Mandat für zwei sehr unterschiedliche Männer übernehmen. Der eine ist der bekannte Gangsta-Rapper Momo (Lefaza Jovete Klinsmann), den seine Freundin (Almila Bagriacik) wegen Vergewaltigung angezeigt hat. Der andere ist Mike Petry (Felix Klare), CEO eines börsennotierten Unternehmens, verheiratet, drei Kinder, ein Mann, der nach Ansicht des Kanzlei-Chefs John Quante (Fritz Karl) es nicht nötig habe, seine Assistentin sexuell zu belästigen. Als Martinelli erfährt, dass es sich bei der Gegenseite um ihre Freundin Mirella Hayek (Franziska Hartmann) handelt, lehnt sie es ab, den Fall zu übernehmen, wird von Quante und seinem Kompagnon (Marc Hosemann) allerdings darauf verpflichtet, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen. Petry bestreitet zwar jeden sexuellen Kontakt mit seiner mittlerweile suspendierten Mitarbeiterin, lässt sich aber von den Kanzlei-Bossen davon überzeugen, dass eine Abfindung besser sei als eine Schlammschlacht – egal, ob schuldig oder nichtschuldig. Doch geht es Hayek überhaupt ums Geld? Ihre Version von der Nacht in einem Berliner Hotelzimmer hört sich völlig anders an als die des Managers. Ob ihre Wut echt ist, welche Rolle der Alkohol spielte und ob vielleicht Drogen im Spiel waren – das sind für ihre Anwaltsfreundin wichtige Fragen – gerade auch, weil Mirella vor Jahren in einem ähnlichen, noch dubioseren Fall verwickelt war, bei dem Drogen eine entscheidende Rolle spielten.

Wahrheit oder LügeFoto: ZDF / Conny Klein
„Ich verteidige Sie auch, wenn Sie schuldig sind.“ Annabelle Martinelli (Natalia Wörner) versucht, keine Vorbehalte gegenüber dem Gangsta-Rapper Momo (Lefaza Jovete Klinsmann) zu haben. Als erstes gewöhnt sie ihm die sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen ab. Hat er seine Ex-Freundin „nur“ geschlagen?

Autor-Regisseur Lars Becker („Nachtschicht“) wollte keinen plakativen #MeToo-Film mit eindeutiger Opfer-Täter-Zuschreibung machen. „Wahrheit oder Lüge“ sollte ein Drama bleiben, das ganz ohne Krimi-Genre-Konventionen auskommt. Vor einigen Jahren hätte man im ZDF einer solchen Geschichte wohl noch Thriller-Elemente verordnet, hätte Sexualdelikte und deren (vor)juristische Behandlung dem Unterhaltungsbedürfnis geopfert. Die #MeToo-Debatte hat nun aber für den Zusammenhang von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch soweit sensibilisiert, dass große Ernsthaftigkeit bei diesem Thema unabdingbar ist und dass man sich keine Fahrlässigkeit hinsichtlich der Erzählweise erlauben kann. Konsequent setzt Becker bei der Fallanalyse auf die Aussagen beider Seiten. Die Strafverteidigerin befragt nicht nur die Beklagten, die vermeintlichen Täter, sondern auch die Kläger, die vermeintlichen Opfer. Trotz einer gewissen Befangenheit versucht die Anwältin, zwischen professioneller Distanz und freundschaftlichen Gefühlen zu trennen. Sie muss für ihre Kanzlei alle Möglichkeiten des Rechts ausschöpfen und darf sich nicht von ihrem Gerechtigkeitsempfinden leiten lassen. Loyalitätskonflikte sind da unvermeidbar. Gleiches gilt für Natalia Wörners Darstellung ihrer Anwältin. Sie bleibt bis zum Ende klar und bestimmt, auch ihre Zweifel unterzieht sie einem „Funktionsmodus“ (Wörner): Selbst ihrer Freundin gegenüber bleibt sie kühl und sachlich  was allerdings auch dramaturgische Gründe hat: Die Handlung setzt weder auf das klassische Betroffenheitsmuster, noch geht hier eine Heldin aufrecht ihren Weg.

„Es hat mich gereizt zu erzählen, wie komplex und schwierig es für eine Strafverteidigerin ist, ein Sexualdelikt moralisch, politisch und die eigene Karriere betreffend vor einem Prozess so zu verhandeln, dass es nicht zu einer öffentlichen Vorverurteilung eines Angeklagten kommt. Diese Methode kann schlicht Schweigegeld bedeuten. (Lars Becker, Drehbuchautor & Regisseur)

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Täter und Opfer zurück am Tatort? „Ich werd’ dich sowas von fertigmachen!“ Mirella Hayek (Franziska Hartmann) lauert Mike Petry (Felix Klare) in der Hotellobby auf.

In der dramaturgischen Umsetzung ist auch die Seriosität des narrativen Ansatzes zu erkennen. So verzichtet Lars Becker auf Rückblenden jeglicher Art. Die mutmaßlichen Missbrauchsfälle werden allein verbal präsentiert: Alle vier Personen, die in die beiden Fälle involviert sind, schildern die Ereignisse aus ihrer Sicht. Die Anwältin hakt regelmäßig nach – woraus aber nur selten eine Haltung zu erkennen ist. Umso mehr versucht man deshalb beim Betrachten, aus dem Verhalten der anderen Protagonisten Rückschlüsse auf die Frage „Lüge oder Wahrheit?“ zu ziehen. Mit Bildern würde man wohl allzu leicht den ernsthaften Versuch, diese Frage zu beantworten, dem Effekt opfern; denn um nicht voyeuristisch zu sein, müsste man auf visuelle Verfremdungen setzen. Außerdem hätten dann zwei der vier Rückblenden gelogen sein müssen. Wie schwierig es aber sein kann, im Film gelogene Rückblenden zu verwenden, weiß man spätestens seit Hitchcock („Die rote Lola“). So kann man sich als Zuschauer ganz auf die jeweilige Situation Anwältin/Befragte(r) konzentrieren. Über diese markanten Szenen hinaus gelingt es Becker, die Spannung auch durch die Makro-Dramaturgie hoch zu halten: So wirft die Salami-Taktik des Managers – er gibt immer nur das zu, was die Gegenseite ihm nachweisen kann – kein gutes Licht auf ihn, aber auch Mirella Hayek diskreditiert sich mit ihrem deutlichen Hang zum Alkohol (und womöglich auch zu Drogen) immer wieder selbst.

Dass das Thema auf die Heldin zurückgespiegelt wird, das gehört hierzulande schon fast zum Inventar dramaturgischer Lösungen. Nicht allerdings die Ungerührtheit, mit der die auch als Frau sehr souverän agierende Strafverteidigerin „das Problem“ meistert. Sie hat mit Anwalt Quante seit längerem ein Verhältnis. Der zerrt zwar des Öfteren spätabends in Martinellis Stamm-Bar an ihr herum, doch diese bleibt im Gegensatz zu ihrem ebenso angetrunkenen wie verheirateten Chef stets umso klarer in ihrer Haltung. Wörner ist eine perfekte Besetzung. Sie sammelt weder reflexhaft die Sympathien des Zuschauers, noch ist sie eine gefühllose Rechtsverdreherin. Das beweist sie nicht zuletzt bei ihrem zweiten Fall, den sie mit weiblicher Intuition löst. „Vielleicht haben wir irgendwas übersehen“, meint sie zu dem in U-Haft sitzenden Rapper. „Wieso?“, fragt der zurück. „Das sagt mir mein Gefühl.“ Darauf Momo: „Hätte nicht gedacht, dass Sie sowas überhaupt haben.“ Martinelli: „Dankeschön, ich hätte nicht gedacht, dass Sie sowas überhaupt wahrnehmen.“ Auf Ironie versteht sie sich also auch. Und es ist erfreulich, dass Lars Becker die Affäre seiner Hauptfigur nicht handlungsintensiv hochjazzt. Diese Annabelle Martinelli ist eine Frau, die mitten im Leben steht. „Sie zieht Ihr Ding durch, nimmt die Zeichen im Sinne von #MeToo sehr bewusst wahr und passt Ihre Verhandlungstechniken schnell dem neuen gesellschaftlichen Bewusstsein an“, so Wörner. Und so wirkt auch ihre Affäre eher wie ein beiläufiger Realitätsreflex, durch den die Heldin allerdings sensibilisiert wird für die anderen Mann-Frau-Machtverhältnisse. Und am Ende zieht Martinelli daraus für sich noch grundsätzlichere Konsequenzen.

Wahrheit oder LügeFoto: ZDF / Conny Klein
Wunderbare Szene: Annabelle (Wörner) und ihre Freundin Grace (Thelma Buabeng). Die Frau mit dem ghanaischem Mutterwitz entlarvt den ganz alltäglichen Rassismus.

„Bei Aussage gegen Aussage liegt keine Patt-Situation vor. Das Opfer hat einen klaren Vorteil  besonders wenn es eine Frau ist … Machen wir uns nichts vor: Bei Politik und Gericht gibt es die Opfer-Mentalität. Das ist kein gutes Jahrzehnt für Männer.“ (Fritz Karls Macho-Kanzlei-Inhaber)

„Als Anwältin verteidige ich auch die Schuldigen, denn vielleicht sind Sie ja gar nicht so schuldig, wie man denkt, oder vielleicht sollte ihre Strafe nicht so hoch ausfallen, wie der Staatsanwalt es sieht.“ (Natalia Wörners Anwältin)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Natalia Wörner, Franziska Hartmann, Fritz Karl, Felix Klare, Almila Bagriacik, Lefaza Jovete Klinsmann, Thelma Buabeng, Marc Hosemann, Pegah Ferydoni, Clelia Sarto, Ill-Young-Kim, Patrick von Blume, Lo Rivera, Yasim El Harrouk

Kamera: Ralf Noack

Szenenbild: Sabine Pawlik

Kostüm: Katharina Ost

Schnitt: Sanjeev Hathiramani

Musik: Hinrich Dageför, Stefan Wulff

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Lars Becker

Regie: Lars Becker

Quote: 5,59 Mio. Zuschauer (18% MA)

EA: 17.02.2020 20:15 Uhr | ZDF

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