Unter anderen Umständen – Lügen und Geheimnisse

Wörner, Brambach, Herforth, Rotter/Tielcke, Kennel. Nur gucken, nicht anfassen

Foto: ZDF / Manju Sawhney
Foto Tilmann P. Gangloff

Nach einem Leichenfund im Moor stößt das Team der Kripo Flensburg auf ein Geheimnis, von dem die Eltern des toten Mädchens keine Ahnung hatten: Die 19jährige Nele war der Star einer Sexcam-Plattform, auf der Frauen per Video spezielle Wünsche erfüllen. Offenbar wollte sich ein Kunde nicht länger damit begnügen, dass er nur gucken, aber nicht anfassen durfte. „Lügen und Geheimnisse“, der 17. Film aus der ZDF-Reihe „Unter anderen Umständen“ (Network Movie), mag keine besonders originelle Geschichte erzählen, aber spektakulär geht es in der 2006 gestarteten Reihe ohnehin nur selten zu. Zum Ausgleich sorgt Regisseurin Kennel, die sämtliche Episoden inszeniert hat, stets für hohe handwerkliche Qualität. Die prominente Besetzung der Gastrollen (Wiesnekker, Schade, Kampwirth, Werlinder, Prinz) ist zudem ein Beleg für die große Wertschätzung, die die Reihe in der Branche genießt.

Im Vergleich zu anderen Reihen, die möglicherweise glamouröser besetzt oder spektakulärer erzählt sind, bietet „Unter anderen Umständen“ solides Handwerk; aber das seit 14 Jahren auf hohem Niveau. Die besondere Qualität der Inszenierungen hängt untrennbar mit Judith Kennel zusammen. Die Schweizer Regisseurin, die hierzulande nur fürs ZDF dreht und sich bis auf wenige Ausflüge („Marie Brand“, „Solo für Weiss“) auf die Krimis mit Natalia Wörner konzentriert, pflegt einen unaufgeregten Stil, verleiht ihren Filmen aber stets eine große Dichte. Basis der ausnahmslos sehenswerten Episoden ist eine offenbar sehr sorgfältige Drehbucharbeit. Während andere Neunzigminüter schon mal wie überlange Serienfolgen wirken, ist auch „Lügen und Geheimnisse“ ausgesprochen handlungsreich.

Unter anderen Umständen – Lügen und GeheimnisseFoto: ZDF / Manju Sawhney
Gute Tradition: Ein Leichenfund an der Grenze. Die dänische Polizei übernimmt den Fall. Alwa (Lisa Werlinder), Winter (Natalia Wörner), Brauner (Martin Brambach)

Der Auftakt entspricht dem üblichen Krimimuster: In einem Moor nahe Flensburg wird die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden. Ein tätowierter pinkfarbener Flamingo bringt das Team von Jana Winter schließlich auf die richtige Spur: Es handelt sich um die 19jährige Nele Wagner (Laetitia Adrian). Ihre Eltern (Roeland Wiesnekker, Birge Schade) wähnen die Tochter auf einer gemeinsamen Radtochter mit ihrer besten Freundin Jennifer (Bianca Nawrath) durch Skandinavien. Sie haben die Mädchen zum Zug nach Kopenhagen gebracht, aber dort ist Nele nie angekommen. Schockiert versucht Jennifers Vater, Werner Petersen (Stephan Kampwirth), seine Tochter zu erreichen. Nachdem das Mädchen wohlbehalten zurückgekehrt ist, müssen Neles Eltern einen weiteren Schock verkraften, denn die Tätowierung ist bei Weitem nicht das einzige Geheimnis der jungen Frau gewesen: Sie hatte nie vor, zusammen mit Jennifer nach Schweden zu radeln, sondern wollte sich die Brüste operieren lassen. Den teuren Eingriff konnte sie sich problemlos leisten: Unter dem Namen „Pink Flamingo“ gehörte Nele zu den Stars einer Internet-Plattform, auf der Frauen per Sex-Video spezielle Kundenwünsche erfüllen. Entsprechend unüberschaubar ist zunächst der Kreis der Verdächtigen, doch die Ermittlungen führen schließlich zu einem Mann, der sich allem Anschein nicht länger damit begnügen wollte, dass er nur gucken, aber nicht anfassen durfte.

Neben der gut erzählten Krimistory zeichnet sich das Drehbuch von Johannes Rotter und Natalie Tielcke nicht zuletzt durch die kriminalistische Ebene aus. Das bezieht sich weniger auf die detektivischen Leistungen des Teams, sondern vor allem auf Zusammenarbeit und Kompetenzgerangel: Da die Leiche auf dänischem Gebiet gefunden worden ist, liegt der Fall in der Zuständigkeit der dänischen Behörden; streng genommen müsste Winter jeden Schritt mit ihrer dänischen Kollegin (Mille Maria Dalsgaard) absprechen. Außerdem haben Rotter und Tielcke dafür gesorgt, dass niemand bloß als Stichwortgeber fungiert, selbst wenn Wörner unumstritten im Zentrum steht. In der letzten Episode („Über den Tod hinaus“, 2020) war Matthias Hamm (Ralph Herforth) persönlich in den Fall involviert, diesmal trifft es Arne Brauner, der bekennen muss, dass er „Pink Flamingo“ besser kennt, als ihm nun lieb ist. Erneut zeigt sich, wie klug die Entscheidung war, Martin Brambach weiterhin mitwirken zu lassen, obwohl er seit 2016 im „Tatort“ aus Dresden als Kommissariatsleiter eine ganz ähnliche Figur verkörpert. Nach dem Umzug des Teams von Schleswig nach Flensburg und Winters Beförderung ist der Rollentausch für den früheren Vorgesetzten nicht immer einfach. In diesem Fall kommt hinzu, dass er Neles Tätowierung zwar sofort erkannt hat, aber erst dann mit der Wahrheit herausrückt, als ihm klar wird, dass sein Name auf der Kreditkartenrechnung der Plattform auftauchen wird. Gut integriert ist auch Lisa Werlinder als eingeheiratete Dänin Alwa Sörensen – sie ist die Schwiegertochter des Staatsanwalts (Hansjürgen Hürrig) –, die als Dolmetscherin die Schnittstelle zur dänischen Polizei bildet.

Unter anderen Umständen – Lügen und GeheimnisseFoto: ZDF / Manju Sawhney
Eine Top-Besetzung bis in kleinere Rollen. Ein Ehepaar im emotionalen Ausnahmezustand. Roeland Wiesnekker, Birge Schade

Die Musik (Sven Rossenbach, Florian Van Volxem) ist ausgezeichnet, die Bildgestaltung (Nicolay Gutscher) wie eigentlich immer bei „Unter anderen Umständen“ von großer Sorgfalt. Darüber hinaus beweist nicht zuletzt die Besetzung, welchen Stellenwert die Reihe innerhalb wie außerhalb des ZDF genießt. Einige Gastrollen in dieser 17. Episode (unter anderem Hary Prinz als Besitzer der Schönheitsklinik) sind nicht sonderlich groß, aber wichtig für die Geschichte. Das gilt vor allem für Neles Eltern: Als sie herausfinden, dass die Tochter ein besonderes Verhältnis zu einem ihrer Kunden hatte, wollen sie selbst für Gerechtigkeit sorgen. Der verwitwete Petersen muss ebenfalls verkraften, dass Jenny nicht das brave Mädchen ist, für das er sie hielt; Bianca Nawrath hat bereits in der amüsanten Italienkomödie „Papa hat keinen Plan“ (2019) als Filmtochter von Lucas Gregorowicz und in der Vox-Familienserie „Das Wichtigste im Leben“ viel Freude gemacht. Am Ende nimmt die Geschichte nochmals eine Wende, die allerdings aufgrund der besonderen Besetzung nicht mehr ganz so unerwartet kommt wie die Enthüllungen von Neles Doppelleben. (Text-Stand: 26.10.2020)

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Reihe

ZDF

Mit Natalia Wörner, Ralph Herforth, Martin Brambach, Roeland Wiesnekker, Birge Schade, Stephan Kampwirth, Lisa Werlinder, Timo Jacobs, Bianca Nawrath, Hary Prinz, Hansjürgen Hürrig, Annika Kuhl, Jacob Lee Seeliger, Laetitia Adrian

Kamera: Nicolay Gutscher

Szenenbild: Thorsten Lau

Kostüm: Silke Sommer

Schnitt: Friederike von Normann

Musik: Sven Rossenbach, Florian Van Volxem

Soundtrack: Tina Turner („We Don’t Need Another Hero”)

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge

Drehbuch: Johannes Rotter, Natalie Tielcke

Regie: Judith Kennel

Quote: 6,66 Mio. Zuschauer (19,4% MA); Wh. (2022): 5,04 Mio. (18% MA)

EA: 23.11.2020 20:15 Uhr | ZDF

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