Identität gesucht – Spionagetätigkeit gefunden!
Bea Kanter (Julia Koschitz) hat Ideale, gesellschaftliche Ideale. Es sind die politisierten frühen 1970er Jahre und sie will anders sein als ihr Vater (Friedrich von Thun), ein Kleinfabrikant aus der hessischen Provinz, aber auch anders als ihre jüngere Chaos-Schwester (Kapfelsperger), die von Männern nicht genug kriegen kann. An der Uni in Frankfurt findet Bea bald Anschluss an die linke Szene. Ein attraktiver Stasi-Anwerber (David Rott) macht ihr schöne Augen und Versprechungen: „Wir hätten ein paar Möglichkeiten für deine politischen Ansätze.“ Und ehe sich die scheue Studentin versieht, arbeitet sie für das MfS als „Perspektiv-Agentin“. Dafür muss sie raus aus dem radikalen Dunstkreis und rein in die bürgerliche Elite. Und so landet die strebsame junge Frau in den 1980er Jahren beim Auswärtigen Amt. Da geht so manches über ihren Schreibtisch, was für Ost-Berlin von Interesse ist. Mit Männern kann sie nach wie vor nicht viel anfangen, aber auch Freundschaften pflegt sie kaum. Ihr aufreibendes Doppelleben kostet sie Kraft, isoliert sie immer weiter und versetzt sie in einen Zustand innerer Zerrissenheit. Die Versetzung nach Lissabon könnte ihr eine neue Perspektive geben – auch, weil sie dort einen Mann (Tim Bergmann) kennenlernt, für den sie erstmals etwas empfindet. Doch das Glück wird nicht von Dauer sein. Der Zusammenbruch der DDR rückt näher und die Wiedervereinigung wird für die Westdeutsche Bea Kanter bittere Konsequenzen haben.
Foto: WDR / Stephanie Kulbach
Eine Frau mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit
Eine Frau sucht ihren Weg, eineinhalb Jahrzehnte lang, und sie scheint ihn erst zu finden, als es für sie schon zu spät ist. Der WDR-Fernsehfilm „Unsichtbare Jahre“ erzählt von einer gestörten Person, die in den Teufelskreis der Einsamkeit gerät und immer unheilvoller abdriftet. „Bea leidet unter dem Zustand, allein gelassen zu sein, dementsprechend ist ihr ganzes Handeln geprägt von dem Wunsch nach Zugehörigkeit“, so Julia Koschitz. Die österreichische Schauspielerin, Jahrgang 1974, hat hier eine ihrer vielschichtigsten Rollen zu bewältigen. Sie trägt den Film über die gesamten 90 Minuten; keine Szene kommt ohne sie aus. Viele Gesichter darf sie zeigen, viele Frisuren tragen. Anfangs kippen ihrer Bea Kanter noch gelegentlich die Gesichtszüge weg, später verhält sich die Figur souveräner. Besonders im unverbindlichen Plausch mit ihren ostdeutschen Kontaktpersonen, mit denen sie sich bevorzugt in südlichen Gefilden trifft, macht sie eine gute Figur. Im Herstellen dieser „Pseudo-Intimität“ wirkt sie direkt, offen, fast unkompliziert. Dennoch lebt sie ein von anderen Menschen entfremdetes Leben. „Ihre Einsamkeit hat auf den ersten Blick etwas Selbstgewähltes“, findet Koschitz. Doch in ihrem Inneren herrscht eine große Leere.
Die Motive der Psyche sind mächtiger als Politik
Obwohl die Premiere von „Unsichtbare Jahre“ im Rahmen eines ARD-Themenabends über „Westagenten“ ausgestrahlt wird, ist der Film weniger ein Stasi-Politthriller als vielmehr ein sensibles Psychodrama. Die deutsch-deutsche Spionagegeschichte wird deutlich vom Psychogramm einer „innerlich armseligen“ jungen Frau überlagert. Dahinter verbirgt sich ein bemerkenswerter Ansatz, das Verhalten der Heldin zu interpretieren. „Auch wenn es bei Linksradikalen, wie insgesamt bei politisch und ideell extrem agierenden Menschen, meist einen großen intellektuellen Überbau gibt, bin ich überzeugt, dass jeder Mensch aus sehr persönlichen Gründen handelt“, umschreibt es Koschitz. Auch Regisseur Johannes Fabrick („Der letzte schöne Herbsttag“) hält die Motive der Psyche für sehr viel mächtiger als rationale Diskurse, die als Gründe für Handeln häufig nur vorgeschoben werden. „Es geht im Wesentlichen um die Frage, welch ein Motiv trägt ein Mensch in sich, das ihn dazu verleitet, sich einer so aberwitzigen Struktur wie der Stasi-Abhängigkeit auszuliefern.“ Es ist die Suche nach Identität, die jene Bea Kanter, eine von 12.000 DDR-Spionen in Westdeutschland, die aber keiner realen Person nachgezeichnet wurde, auf den Irrweg ihrer Spionagedienste führt. Aus der Erzählperspektive und der Genre-Ausrichtung ergibt sich, dass die geheimdienstliche Tätigkeit nicht dazu dient, äußere Spannungsmomente zu erzeugen. Spannung, das heißt in „Unsichtbare Jahre“ vor allem innere Anspannung der tragischen Heldin, die aus deren Unsicherheit und Haltlosigkeit resultiert. Davon den Zuschauer etwas spüren lassen, mal nur vage, mal deutlicher – darin zeigt sich das große Können von Julia Koschitz. Das wiederum passt zu Fabricks Drama-Kunst, die einen aktiven Zuschauer fordert, einen Zuschauer, der die Seele unter der Haut der Schauspieler, in fein nuancierten Regungen, zu entdecken versucht.
Foto: WDR / Stephanie Kulbach
„Bea ist zunächst keine klassische Sympathiefigur. Sie hat eine undurchschaubare Gefühlsneutralität, die es einem schwer macht, sie zu greifen oder gar mit ihr warm zu werden.“ (Julia Koschitz)
Soundtrack: u.a. Iron Butterfly („In A Gadda Da Vida“), CCS („Brother“), Cat Stevens („Peace Train“), Ton Steine Scherben („Keine Macht für niemand“), Band Aid („Do They Know It’s Christmas?“), Wham („Last Christmas“)
„Ich glaube, dass man mit Spürsinn und intelligenter Emotionalität sehr wohl nachvollziehen kann, warum Bea Kanter so handelt. Die Ursache wird aber nie eindeutig auf den Punkt gebracht wie in vielen trivialen Filmen, wo häufig ein einzelnes Trauma für alle Folgen herhalten muss.“ (Johannes Fabrick)
Im Zweifelsfall am Ende wieder einsam & allein
„Unsichtbare Jahre“ erzählt von einem zerrissenem Leben, von der „Unfähigkeit, eine tragende lebensbejahende Beziehung einzugehen“ (Fabrick), es ist ein Stationen-Drama über 16 Jahre ohne Entwicklung, ohne Utopie, ohne Hoffnung. Damit spiegelt sich im Schicksal der Heldin auch ein Stück weit das Schicksal der DDR. Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass sich diese verzweifelt nach einer Identität suchende Person ausgerechnet einem Staat anvertraut, der durch ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl gekennzeichnet ist, und sich einem politischen System verschreibt, das dem Untergang geweiht ist. „Was ist, wenn alles auseinander bricht?“, will die Agentin von ihrem V-Mann wissen. „Dann bist du auf dich selbst gestellt.“
Foto: WDR / Stephanie Kulbach