Der Tatort – ein Schauplatz des Grauens. In einer abgeschiedenen Villa am Waldrand sind zwei Ehepaare ermordet worden: Vier Personen, acht Schüsse – doppelt hält besser. Das Szenario wirkt wie eine Hinrichtung: kaltblütig, präzise ausgeführt – möglicherweise Profikiller. Kriminalpsychologin Annett Schuster (Kristin Suckow), Profiler Jan Kawig (Bernhard Conrad) und Marion Dörner (Anne-Kathrin Gummich), die Chefin der Abteilung Operative Fallanalyse, haben alle Hände voll zu tun. Da ist die Auswertung der vielen Spuren, da ist aber auch die 16-jährige Rebecca (Mariella Aumann). Sie hat überlebt, weil sie sich in einen Schutzraum retten konnte. An die Schüsse erinnert sie sich noch, danach ist ihr Gedächtnis wie ausgelöscht. Amnesie als Schutz vor dem Unerträglichen. Das Mädchen schwebt möglicherweise in Lebensgefahr, braucht auf jeden Fall Polizeischutz. Rebecca ist die Nichte des Hausbesitzers und seiner Frau. Das andere ermordete Paar sind die Eltern des Mädchens. Die Toten sind Italiener. Die protzige Villa beherbergt ein wenig lukratives Restaurant. Das lässt auf Geldwäsche schließen. Und mehr noch: „Alles schreit nach Mafia“, wundert sich Jan Kawig, „und die geben uns den Fall“. Nicht ohne Grund: Es besteht Maulwurfverdacht.
Foto: MDR / Degeto / Oliver Feist
War das titelgebende „Haus der Toten“ ein Umschlagplatz für Falschgeld? Dafür aber ging das Lokal nicht gut genug. Was war in dem Rucksack, mit dem Rebeccas Vater in den Wald ging, aber mit dem er nicht mehr zurückkam? Rebeccas Eltern sind vorbestraft. Offenbar führten sie etwas Kriminelles im Schilde. Waren sie die Urheber der Lauschaktionen, auf die die Ermittler stoßen? Hat in der Villa die Mafia abgehört oder wurde sie abgehört? Welche Dramaturgie hatte die Mordnacht? Akribische Spurenauswertung dominiert auch in der zweiten Episode der ARD-Donnerstagskrimi-Reihe „Tod am Rennsteig“. Als Mitarbeiter der OFA (Operative Fallanalyse) lesen Schuster & Co in erster Linie den Tatort, sie befragen mögliche Zeugen wie den aufmerksamen Jona (Jona Levin Nicolai), Rebeccas Freund, der im Restaurant gekellnert und von daher von den Machenschaften in der Villa einiges mitbekommen hat, und sie kümmern sich um die verzweifelte Rebecca, ein Job für die Kriminalpsychologin. Kawigs Haus wird zum Safehaus, in dem das Mädchen mehr Familie erlebt als bei ihren Eltern, die wenig Zeit für ihre Tochter hatten. Und dann steht auch noch Kawig senior (Uwe Preuss) vor der Tür, eine Art Ersatzgroßvater gibt es also auch noch. Trotzdem findet Rebecca keine Ruhe. Sie weiß, dass sie etwas weiß, aber sie weiß nicht, was. „Ich muss diesen Tag irgendwie zusammensetzen“, sagt sie – und kehrt zu Beginn des Schlussdrittels noch einmal zurück an den Ort ihres Traumas. Wird sie sich erinnern? Oder kommt ihr dort möglicherweise ein korruptionsverdächtiger Kommissar (Guido Renner) von der OK (Organisiertes Verbrechen) in die Quere?
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„Haus der Toten“ erzählt keinen klassischen Whodunit. Außer diesem Kommissar gibt es zunächst keinen konkret Verdächtigen. Wie ein Phantom geistert allein die Mafia über der Szenerie. Dass Kawig seinem Lieblingsitaliener von den Morden erzählt, war keine gute Idee. Die ‘Ndrangheta hält fortan die Beine still. Im Ansatz erinnert die Ermittlungsarbeit am Rennsteig an den ARD-Ausnahme-Zweiteiler „Spuren“ mit Nina Kunzendorf. Auch in dem Film von Carolina Hellsgård nach dem Drehbuch von Jens Köster, der auch den ersten „Rennsteig“-Krimi schrieb, sieht man viel kleinteilige Polizeiarbeit. Es ist die Suche nach Puzzleteilen, aus denen sich ein Gesamtbild ergibt. Im Mittelpunkt stehen die Suchenden. Die beiden Hauptermittelnden und besonders ihre Darsteller, Kristin Suckow und Bernhard Conrad, sind und bleiben das Beste an dieser ARD-„Donnerstagskrimi“-Reihe, dessen zweite Episode sich gut weggucken lässt, aber dessen Krimi- und Psycho-Logik einen nach der Auflösung retrospektiv doch über so manch eine Unstimmigkeit stolpern lässt. Schuster und Kawig sind indes runde, in sich stimmige Charaktere, die im Angesicht von vier Morden und einer Trauma-„Patientin“ den passenden Ton anschlagen. Dass – ähnlich wie einst beim „Polizeiruf“ in Rostock – die Geschlechterklischees gebrochen werden, indem die Frau der Kopf- und der Mann der Bauch-Ermittler ist, macht sich gut: Die Schönheit der Kommissarin, die in „Auge um Auge“ Begehrlichkeiten bei der Gerichtsmedizinerin weckte, wird diesmal nicht weiter thematisiert. Dafür hat die Revierförsterin (klasse: Sarah Bauerett) ein Auge auf Kawig geworfen. Der Frau entgeht nichts – dank ihrer Wildkameras und dank ihres scharfen Blicks („Sie haben einen tollen Arsch“). Für den Kommissar ein doppelter Volltreffer.
Auch die Rekonstruktion des Tathergangs in jener Nacht mittels eines Modells der Villa, das Kommissarin Sabine Limmer (Berit Künnecke), das fleißige Bienchen des Teams, gezimmert hat, ist ebenso originell wie anschaulich. Der Zuschauer, der gegenüber den Kommissaren einen kleinen Informationsvorsprung besitzt, bekommt noch einmal das vor Augen geführt, was er in der Eingangssequenz eindrucksvoll zu sehen bekam. In einer komplexen Einstellung mithilfe eines Drohnenflugs wird man Augenzeuge der Morde. Durch die Fenster sieht man, wie sich der Mörder, auf dem Kopf ein Motorradhelm, durchs Haus bewegt. Der Zuschauer beobachtet die Situation, bleibt auf Distanz. Nach getaner „Arbeit“ verschwindet der Mörder auf einem Moped im Wald. Nach diesem brutalen Einstieg gleich wieder Schüsse: Schuster beim Schießtraining. Kurz entspannt sich die Situation: Die Sonne scheint sommerlich. Dann die erschreckende Tatort-Begehung… Die Exposition, die blutige Tat, ist dicht inszeniert (der Score mit etwas viel Tamtam). Es folgt die Tätersuche. Jetzt übernehmen die sympathischen Ermittler. Zwei, die gut miteinander können, und ein kollegiales, kooperatives Team, dem man gern bei der Spurensuche zusieht. Ergebnis: ein unaufgeregter, analytischer und figurenorientierter Krimi mit moderaten Thriller-Momenten.
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