Ein mörderischer Racheengel ist aktuellen Missbrauchsopfern auf der Spur
Der Weihnachtsmann kommt im Sommer – und er hinterlässt eine dicke Blutspur, auf der Ivo Batic (Miroslav Nemec) erst einmal ausrutscht, bevor er und Kollege Leitmayr (Udo Wachtveitl) das schaurige Szenario überblicken können. In einem Einfamilienhaus in einer der besseren Gegenden Münchens ist ein Ehepaar regelrecht hingerichtet worden. Der Mörder: ein Mann im Santa-Claus-Kostüm. Sein Medium: eine sprechende Smartpuppe namens Senta. Eine Verbündete wieder Willen: Lena (Romy Seitz), die kleine Tochter der Getöteten. Die abgeschnittenen Genitalien und der Hinweis auf den Paragraphen zur Mittäterschaft, sind eine eindeutige Botschaft: Dieses Haus war Tatort eines Missbrauchs. „Wir kriegen euch alle“ hat der Mörder mit Blut an die Wand gekrakelt. Der Doppelmord steht in Verbindung mit dem Suizid einer alten Frau. Die Kommissare erinnern sich: Die Tote hatte eine solche Smartpuppe im Schrank. Diese Kinder liebende Dame war in einem Verein für die Opfer sexuellen Missbrauchs engagiert. Dort stößt der verdeckt ermittelnde Batic auf Hasko (Leonard Carow) und Ralf (Martin Feifel) – und er hört von Gewaltphantasien, die die Überlebenden umtreiben. Da 24 dieser sprechenden Smartpuppen im Umlauf sind, könnte der Täter seine Drohung wahr machen. Eine besonders gefährdete Familie sind die Greins: der Vater (Stephan Schad) ein autoritärer Besserverdiener, der seinen Sohn Louis (Jannik Schümann) demütigt, wo es nur geht, dagegen seine kleine Tochter Gretchen (Lilly Walleshauser) hingebungsvoll liebt.
Die Smartpuppe Senta wird zum manipulierenden Spion im Kinderzimmer
Zuletzt waren es im BR-„Tatort – KI“ Teenager, die mit einem sprechenden, intelligenten Computerprogramm kommunizierten, um ihrer Einsamkeit und inneren Leere zu entkommen. Nun in „Wir kriegen euch alle“, ebenfalls ein „Tatort“ aus München, sind es Kinder, die eine Puppe zu ihrer besten Freundin machen. Eingesetzt werden sollte jene Senta anfangs allenfalls als eine Art Spion im Kinderzimmer, in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe Beweise für mutmaßliche Missbrauchsfälle zu sammeln: denn die Puppe hat ein Mikrofon eingebaut und das Programm kann spielend leicht gehackt werden. Offenbar nimmt nun aber ein „ehemaliges“ Opfer das Recht selbst in die Hand. Wie die Interaktion mit dieser Puppe funktioniert, das macht Franz Leitmayr – ähnlich wie er in „KI“ mit der intelligenten Software kommunizierte – gleich zu Beginn der Ermittlungen vor. Die Männerstimme wird zu einer warmen weiblichen Puppenstimme moduliert. Einerseits wirkt diese Senta mit ihren leuchtenden Augen wie ein Werkzeug des Teufels, andererseits rettet diese Geisterpuppe, die der menschlichen Manipulation Vorschub leistet, am Ende des Films sogar ein Kinderleben. Dazwischen sieht man den Täter, wie er mit einem Handwerkerkleinbus München abfährt, um über die „Puppengespräche“ Hinweise auf Missbräuche zu erhalten. „Keiner macht Papa so glücklich wie du“, muss er sich da anhören. Oder ein kleiner Junge vertraut seiner Puppe an: „Er fasst mich an; ich hasse das.“ Wird der Rächer bald wieder die Machete schwingen?
Das Thema in einen gesellschaftlichen & emotionspolitischen Kontext gestellt
Ein narrativ raffinierter, thematisch doppelbödiger Thriller mit gesellschaftsrelevantem Mehrwert ist dieser 80. „Tatort“ der Herren Nemec & Wachtveitl geworden. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass Selbstjustiz nicht die richtige Methode ist, um Gerechtigkeit herzustellen; auch wenn der Zorn der missbrauchten Männer verständlich ist. „Es wurde ein Film, der psychologisch im Kern darum kreist, wie Opfer zu überzeugten Tätern werden und dabei aus der Opferrolle ihres eigenen Lebens nicht herausfinden“, bringt es BR-Redakteurin Stephanie Heckner auf den Punkt. Kluge Dialektik findet einmal mehr in einem Drehbuch von Michael Comtesse („Tatort – Sein Name sei Harbinger“) und Michael Proehl („Das weiße Kaninchen“) ihren Niederschlag. Man hat nie das Gefühl, das Missbrauchsthema werde hier selbst missbraucht, um den Film künstlich zu emotionalisieren. Es wird erzählt von Kindern, die ihren Vätern sexuell „gefällig“ sind, doch die Autoren setzen weniger auf Wut und Mitleid, Gefühle, die bei der Filmrezeption leicht zu haben sind: Den Missbrauch am Ende des Films stellen sie in einen größeren gesellschaftlichen & emotionspolitischen Zusammenhang. Im Leben funktioniert diese Soziologie der Gefühle (Stichwort „Wutbürger“) ja ganz ähnlich. Ohne konkreter werden zu können: Die Auflösung der Krimihandlung rekurriert indirekt auf Phänomene wie Leichtgläubigkeit und „Dummheit“, zwei Urfeinde der Demokratie. „Du brauchst nur ein emotionales Thema und du findest irgendwelche Deppen, die dich unterstützen“, heißt es in einem entscheidenden Dialog. Einige Filmminuten zuvor gibt es Ansätze zu einem Diskurs über Ethik & Moral zwischen Batic und einem Verdächtigen; der Polizist ist in einem Raum gefangen, während das an Jahren reife Gegenüber noch immer ein Gefangener der Untat seines Vaters ist. Eine starke Szene: weil sie das Physische mit dem Psychischen, die Gegenwart mit der Vergangenheit, das Drama mit dem Krimi verbindet.
Dramaturgisch ist dieser Krimi-Thriller vorzüglich gebaut – und er ist spannend
Die Geschichte also öffnet immer wieder „inhaltlich“ neue Türen. „Wir kriegen euch alle“ zeigt, dass Spannung viel mehr als eine Technik ist. Aber auch dramaturgisch ist dieser Krimi-Thriller vorzüglich gebaut. In den letzten 20 Minuten verdichtet sich das bis dahin Erzählte in drei Handlungssträngen, die hocheffektiv miteinander kombiniert werden. Die Szenen sind nie zu kurz, sodass genügend Raum für Drama und Empathie bleibt, sie bieten die nötigen Erklärungen für die Hintergründe der Geschichte, wirken durch die Szenenwechsel aber keinesfalls zugequatscht. Denn als Zuschauer will man „die Lösung“ ja wissen; nur, man will sie nicht verpackt haben in einer dreiminütigen Was-der-Zuschauer-noch-wissen-sollte-Szene. Ein Mehrwissen gegenüber den Kommissaren sammelt der Zuschauer im Übrigen erst in jenem packenden Schlussdrittel an. Nicht unwesentlich für den Gesamteindruck sind die kleinen rituellen Momente, in denen der ritualisierte Humor (Schnick Schnack Schnuck, eine lausbubenhafte Ausspionieraktion mit anschließendem Blatt im Haar) der beiden Buddies durchschlägt. Für ein kräftiges Schmunzeln, vielleicht sogar einen Lacher gut ist eine Situation, in der der gefangene Batic versucht, mit Hilfe einer Stange und des geöffneten Kellerfensters Empfang für sein Handy zu bekommen; dass dabei ein Hund Gefallen an dem smarten Ding findet, damit hat er nicht gerechnet (später kann sich Leitmayr, der dem Hund das Handy abgenommen hat, nur wundern). Die Komik verrät Geschichte oder Thema nicht, sie entlastet indes kurzzeitig, macht den Zuschauer möglicherweise aufnahmebereiter für den Ernst und die Tragik der Geschichte. Auch in der ebenso harten wie furiosen Schlussszene stehen Gewalt, Mord und Witz („Bist du der echte Weihnachtsmann?“) nebeneinander.
Liebgewonnene Konstanten; gut besetzt, elaboriert inszeniert, top fotografiert
Der Münchner „Tatort“ ist und bleibt immer für eine Überraschung gut. Und wie zuletzt bei „KI“ erweisen sich die launigen Silberlocken als geeigneter Gegenpol zu diesem erfrischend modern erzählten, aber auch sehr unbarmherzigen Krimi-Thriller. Die beiden sorgen für eine gewisse Erdung und sind – besonders für ältere Zuschauer – die liebgewonnenen Konstanten in diesem vielschichtigen Genre-Mix. Mit Leonard Carow und Jannik Schümann sind nicht nur die jungen Episodenhauptrollen gut besetzt, auch die prominenten Nebendarsteller (allen voran Feifel) und die neuen Gesichter wie Yun Huang oder die kleine Lilly Walleshauser bleiben einem in Erinnerung, weil sie wichtige Augen-Blicke des Films prägen. Maßgeblich zu dem großartigen Gesamteindruck von „Wir kriegen euch alle“ tragen selbstredend auch die Arbeit von Sven Bohse und der Gewerke bei. Der Regisseur hat nach den beiden famosen „Ku’damm“-Mehrteilern mit „Borowski und das Land zwischen den Meeren“ dieses Jahr seinen ersten Krimi, gleich eine Ausnahme-Produktion, vorgelegt; er bevorzugt einen reduzierten Stil. Das wirkt mitunter stylish; alles bleibt jedoch sachlich und klar. So ist das Szenenbild stets aufs Wesentliche konzentriert; es dominieren gedeckte Farben mit leichtem Grau- oder Grünstich. Wenn der Bildinhalt expressiv wird, ist das gesamte 16:9-Format schon mal in knalliges Rot oder Blau getaucht. Und Schatten oder das Dunkel der Nacht sind auch in diesem „Tatort“ von großer ästhetischer Bedeutung. An der Bildgestaltung von Michael Schreitel („Das Programm) fällt darüber hinaus besonders das atmosphärische Erzählen in markanten Einzelbildern ins Auge, mit denen in Windeseile viel Information und noch mehr Atmosphäre erzeugt wird. Fazit: ein Tatort“, der sich auf allen Ebenen sehen lassen kann.