„Ach du scheiße“, rutscht es Kommissar Murot (Ulrich Tukur) heraus, als er nach einem Leichenfund im Parkhaus der Wiesbadener Spielbank im Kofferraum des Toten auf eine weitere Leiche stößt. Doch das ist nichts gegen das, was folgen wird. Felix Murot hat Sendepause. Der „Tatort“-Dreh wird auf Eis gelegt. Grund: Der 19-jährige Assistent der Aufnahmeleitung ist tot. Wahrscheinlich ein Unfall. Dennoch stellt die Polizei unschöne Fragen. Hauptdarsteller Ulrich Tukur hat beim Bergfest, dem institutionalisierten Besäufnis zur Halbzeit jeder Dreharbeiten, zu tief in die Flaschen geschaut, kann sich an nichts erinnern, selbst dann nicht, als die Polizei nachhilft: Die Überwachungskamera zeigt, dass der Schauspieler nach dem Casino-Besuch mit dem Toten ins Unfallauto gestiegen ist. Dieser hat fast 80.000 Euro gewonnen – und ist nicht an den Folgen des Unfalls gestorben. Als Tukur in seinem Hotel wenig später das Geld findet und wenig später k.o. geschlagen wird, verliert er endgültig die Orientierung. Er taucht vorsichtshalber unter und hofft, mit seinen Schauspieler-Kollegen Wolfram Koch vom neuen HR-„Tatort“-Team und dem im Leipzig-Ableger der Reihe geschassten und deshalb finanziell momentan etwas klammen Martin Wuttke den oder die wahren Täter zu überführen; allerdings sind die drei nur im „Tatort“ clevere Kommissare.
Während das komische Potenzial von Kriminalkomödien wie „Wilsberg“ oder dem „Tatort“ aus Münster vornehmlich in den Figuren verankert wird, in Interaktionsritualen und in pointierten Dialogen, dringt der HR mit seinem Tukur-„Tatort“ nun schon zum dritten Mal auf eine dramaturgisch essenziellere Ironie-Ebene vor. Nach der Groteske „Das Dorf“ und der Italo-Western-Shakespeare-Oper „Im Schmerz geboren“ mit ihrer rein ästhetischen Ironie überrascht nun „Wer bin ich?“ durch seine originelle Film-im-Film-Konstruktion. Der „Tatort“ von Bastian Günther, der mit Tukur bereits das außergewöhnliche Arthaus-Drama „Houston“ gemacht hat, ist formal eine Mixtur aus Krimi, Komödie und Tragödie. Der Krimi(kom)plot interessiert nur in Verbindung mit dem seelischen Niedergang des Helden; seine Isolierung, seine Vereinsamung ermöglicht den emotionalen Zugang zum Film. Zumindest theoretisch. Das ist so ein bisschen wie bei Hitchcock – ein Unbedarfter gerät in eine Intrige oder gar Verschwörung. „Ulrich Tukur“ in „Wer bin ich?“ ist eine atypische Rolle für Tukur – der den meisten seiner Charaktere, auch noch seinen halbseidenen oder moralisch bedenklichen, etwas Spielerisches, Doppelbödiges, Ironisches verleiht. Tukur einmal in einer Rolle zu sehen ohne jeglichen Charme und ohne jedes Charisma, ein blasser Fernsehstar, anfangs verkatert, später am Rande des Abgrunds, das ist äußerst ungewöhnlich und auch gewöhnungsbedürftig. Tukur ist zwar fast in jedem Bild, aber seine Strahlkraft hält sich in Grenzen. Neben dem Tonlagenwechselspiel dürfte dies die größte Herausforderung für den Zuschauer sein.
„Ich glaube, dass dieser Krimi auch funktioniert, wenn man nicht auf alle Meta-Ebenen mitgehen möchte. Auch dann macht er Spaß. Er bleibt eine Krimi-Tragikomödie. Da gibt es die slapstickhaften Elemente mit den anderen Tatort-Kommissaren und einen Ulrich Tukur, der immer mehr vereinsamt. Letztlich eine etwas bittere Reflektion über die nicht wirklich vorhandenen Freundschaften im Film-Business.“ (Redakteur Jörg Himstedt, der im Film Jens Hochstätt heißt und von Michael Rotschopf gespielt wird)
„Ulis Strahlkraft wirkt noch mehr durch seine Abwesenheit. Indem alle nur über ihn reden, wird er richtig präsent. Den vermisst du null.“ (Justus von Dohnányi als Justus von Dohnányi im Film)
Dass der Verfall des Stars einem nicht übermäßig zu Herzen geht, liegt selbstredend an den ironischen Spitzen, die sich in Bastian Günthers Film deutlich in den Vordergrund schieben. Der Witz, die Situationskomik, die im Schmunzeln des Zuschauers ihren Ausdruck finden mögen, hat auf der 90minütigen Strecke weniger die Funktion, das Drama des Helden zu konterkarieren und abzumildern, als vielmehr, eine eigene Rezeptionsebene zu kreieren, die unter Umständen die Krimi-Tragödie eher uninteressant werden lässt. Es ist eine Frage des Geschmacks und der ästhetischen Vorlieben, was man sich als Zuschauer aus diesem Film herausholt und wie man ihn letztlich für sich „nutzt“. Wer Überraschungen liebt, wer es zu goutieren weiß, dass vier Darsteller von „Tatort“-Kommissaren plus der ausgemusterte Wuttke in den größten Rollen des Films agieren, wer Spaß an bissigen Seitenhieben auf die Filmbranche hat, in der sich zwar alle duzen und „lieben“, aber wo Neid und üble Nachrede an der Tagesordnung sind, der wird auch bei der überschaubaren Krimihandlung nichts vermissen (für eine Sechs-Sterne-Krimikomödie hätte allerdings der Krimplot ausgereifter und komplexer sein und sich nicht nur mit der Mordverdacht-Idee begnügen müssen). Wer dagegen festgefahrene Vorstellungen davon hat, wie ein Sonntagskrimi aussehen muss, der hat schlechte Karten bei „Wer bin ich?“, diesem wilden Genre-Mix, in dem am Ende auch noch die Figur Felix Murot ihren Aufstand probt und sich verdünnisiert. „Ich existiere doch nur, wenn die Kamera läuft, davor und danach nichts, Luft… Ich möchte auch mal leben, möchte auch mal real sein, einen Spaziergang machen…“ (Text-Stand: 30.11.2015)