Ein junger Mann beschmiert sich den Mund mit dem Lippenstift seiner Chefin. Diese liegt Minuten später mausetot im Blumenbeet ihres Gartenbaubetriebs. Ihr Schwiegersohn Patrick Teichmann (Nico Rogner) findet sie, währenddessen ihre Tochter, Nadine (Kristin Suckow), in einem anderen Gewächshaus zu tun hat. Der Mitarbeiter, der sich am Eigentum der Toten zu schaffen gemacht hat, ist der autistisch veranlagte Juri (Alexander Schuster), ein Kind im Körper eines Erwachsenen. Weil er die Tatwaffe, einen Hammer, in der Hand hielt, wegläuft und untertaucht, ist er fortan für Karin Gorniak (Karin Hanczewski), Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) und Abteilungsleiter Schnabel (Martin Brambach) der Hauptverdächtige. Bei seiner Flucht hilft ihm seine Schwester Swetlana (Lara Feith), die ebenfalls bei Teichmann arbeitet. Sie hat ein Verhältnis mit Patrick Teichmann, in dessen Ehe es offenbar seit längerem kriselt. Das kommt in den besten Familien vor, ein Mordmotiv lässt sich daraus nicht ableiten. Es gibt da aber noch eine andere Sache, die nicht in den besten Familien vorkommt und die bis in DDR-Zeiten zurückreicht. Und plötzlich erscheint der Fall in einem völlig anderen Licht.
Nachdem der „Tatort – Totes Herz“ alle Krimi-Konventionen aus vorgestrigen Tagen weidlich ausgeschöpft hat, dürften Kenner nach etwa dreißig Filmminuten ahnen, dass dies wohl einer jener Whodunits werden muss, die spätestens zur Halbzeit noch einmal neu durchstarten. Bis dahin ist alles Routine: Plot- und Ermittler-technisch; aber auch die Inszenierung folgt brav der durchschaubaren Handlung. Die Kommissarinnen sind zuverlässige Moderatorinnen des Falls. Für Zuschauer mit langer Leitung oder schwacher Blase erstatten sie in regelmäßigen Abständen ihrem Chef Bericht, um anschließend die in den Mordfall verwickelten Personen mit Hypothesen zu überhäufen. Während das Referieren der im Off recherchierten Fakten, die für den Zuschauer wichtig sind, um die Handlung besser zu verstehen, knapp & zackig vonstattengeht, ist der Rest der „Teamarbeit“ ein ziemliches Gemähre, durchsetzt von Animositäten und eher befremdlichen Befindlichkeiten. In den Details hätte dem Drehbuch auch etwas mehr Mut zur Lücke gutgetan. Das Bettzeug im Wohnzimmer, auf das die Kamera deutlich zeigt, und die verunsicherten Blicke von Patrick Teichmann sollten reichen, um die Information zu transportieren, die Autorin Kristin Derfler vermitteln will. Die Frage „Haben Sie gerade Besuch“, das Herumgedruckse als Antwort ist da schon ein Tick zu viel. Eine Szene später fällt jedoch auch noch der Satz: „Auf jeden Fall scheint es in der Ehe der Teichmanns zu kriseln; das schließe ich aus dem Sofa.“ Und so ähnlich geht es weiter: Meist sind es die Kommissarinnen deren Blicke das Gezeigte bedeutungsvoll doppeln (Teichmann und Swetlana – zwischen denen läuft irgendwas…). Es ist das größte Manko vieler MDR-„Tatorte“ aus Dresden, dass die Fälle sich selten vom Blick und vom Bewusstsein der Ermittler lösen. Brav hecheln sie den Fakten hinterher und geben verbal ihren Senf dazu.
Mit der ersten Wende nach 40 Filmminuten ändert sich die Fixierung auf die Ermittler kaum. Wenigstens der Plot öffnet nun aber dem Zuschauer erstmals Räume jenseits der Krimi- Versatzstücke. Die Phantasie des Zuschauers und der Kommissare kreist in der Folgezeit um Themenkomplexe wie Menschenraub, Adoption, und ein noch zu DDR-Zeiten praktizierender Arzt kommt ins Spiel. Auch wenn viel Handlung mit Themen-Zugabe eher kein Gratmesser für einen guten Krimi ist, so wird dieser „Tatort“ von Andreas Herzog jetzt zumindest interessant. Psychologisch allerdings sollte man die Geschichte nicht hinterfragen: Denn während der Plot große Geschütze auffährt, bleibt der einen oder anderen Figur keinerlei Zeit, Urschocks zu verarbeiten. Für Schauspieler:innen stimmig spielbar ist das nicht. Und was die neuen historischen Infos mit dem Mord an Heike Teichmann zu tun haben sollen, bleibt für den Zuschauer erst mal ein Spiel mit Vermutungen. Immerhin. Die Auflösung bekommt man dann erst auf der Zielgeraden. Und die ist noch etwas komplexer als zuvor angenommen.
„Totes Herz“ läuft nicht nur auf ein Hochspannungsfinale hinaus, welches in Staunen versetzt und ein Bisschen versöhnt mit diesem Gebrauchskrimi, sondern dieser „Tatort“ endet mit einer Rückblenden-Sequenz, in der das tödliche Geschehen – Heike Teichmann bleibt nicht das einzige Mordopfer – von Anfang bis Ende in Form eines soften, mit einem Popsong unterlegten Videoclips zusammengefasst wird. Es ist eine gelungene, da stimmungsvolle, nonverbale Variante von Informationsvergabe, die die Zuschauer, die noch Erklärungsbedarf haben, mit gutem Gefühl statt mit Irritationen aus dem Film entlässt. In den vorherigen 80 Minuten hätte sich der Kritiker mehr von solchen ästhetisch reizvollen Ausbrüchen aus diesem recht biederen Krimi-Szenario gewünscht. Denn was diesem „Tatort“ vor allem fehlt, ist eine spürbare übergeordnete Erzählinstanz, die nicht mit der Ermittlerperspektive identisch ist.