Das Opfer ist ein Mädchen, das wir zu Beginn in Handyvideos und bei einem Vortrag vor der Schulklasse sehen. Sonnhild (Gro Swantje Kohlhof), Tochter des Öko-Bauern Volkmar Böttger (Nicki von Tempelhoff) und seiner Frau Almut (Alexandra Schalaudek), ist frisch verliebt und schwanger. Sie sitzt am Ufer des Mummelsees und flirtet mit ihrem unbekannten Freund, der sie mit einem geschenkten Handy filmt. Parallel sehen wir ihren Vortrag vor der Klasse. Das Nibelungenlied, Kriemhild befragt ihre Mutter Ute: „Was sagt ihr mir vom Manne, viel liebe Mutter mein?“ Sonnhild trägt den Text nicht wie eine Schülerin aus dem 21. Jahrhundert vor, sondern als wäre sie eine junge Frau, die tatsächlich in der Zeit der Minnesänger lebt. Am Ende bricht sie im Klassenzimmer zusammen. Kurz darauf stirbt sie, während ihr Freund Torsten (David Zimmerschied) ihr, am Bett sitzend, Vorwürfe macht – und anschließend das Zimmer durchsucht. Die offizielle Diagnose lautet Diabetes, Sonnhild wurde nicht mit dem nötigen Insulin versorgt.
Ähnlich wie im ersten Film „Goldbach“ ist auch dieser zweite Schwarzwald-„Tatort“ ein gutes Beispiel für einen Reihen-Krimi, der sich sowohl thematisch wie ästhetisch ganz auf seine Landschaft einlässt, in der er spielt. Und der etwas erzählen will vom Leben in dieser Landschaft und von den Menschen, die von ihr geprägt werden. Bilder, Stimmung, Tempo, Figuren – die Verortung gelingt in einem stimmigen Gesamtbild. Allein bei der Sprachfärbung muss man Abstriche machen. Zwar bringen die Darsteller Hans-Jochen Wagner (geboren in Tübingen) und Eva Löbau (geboren in Waiblingen) immer mal wieder den regionalen Dialekt zur Geltung, aber das prägnante Hochdeutsch von Böttger, der doch ein alter Freund von Kommissar Friedemann Berg (Wagner) ist und so eindringlich für den in der Heimat verwurzelten Öko-Bauern steht, irritiert und ist dann wohl der Rücksichtnahme aufs Gesamtpublikum geschuldet. Dennoch erfreulich, dass man Gelegenheit hat, den versierten Bühnen-Darsteller von Tempelhoff in einer derart kraftvollen Fernseh-Rolle zu sehen. Volkmar Böttger ist das Familienoberhaupt, ein stattlicher Mann mit Rauschebart und klaren Vorstellungen. Von Tempelhoff spielt ihn keineswegs als brutalen Tyrann oder windigen Sekten-Guru. Und auch nachdem sich Böttgers verquaste Wikinger-Blut-und-Boden-Ideologie offenbart hat, bleibt der „Wehrbauer“, der sich in einem „Krieg gegen die Umvolkung“ wähnt, ein Familienvater und Freund jenseits von Klischees. Eine Verharmlosung? Nein, einfach eine interessante Type, anziehend und abstoßend zugleich.
Im zweiten Film werden auch die privaten Lebensumstände des neuen Ermittler-Teams, die in „Goldbach“ noch ausgeblendet waren, deutlich. Die Einführung des Privaten geschieht ebenfalls ohne großes Tamtam, wortlos, nur mit ausdrucksstarken Bildern. Berg, der eine Zibarte pflückt, betrachtet, daran riecht, in den Mund steckt und probiert. Franziska Tobler (Löbau), die sich mit ihrem Freund schweigend umarmt, nachdem sie im Badezimmer das Ergebnis des Schwangerschaftstests in Augenschein nahm. Tobler ist in „Sonnenwende“ die treibende Kraft, die sich hartnäckig gegen alle, auch Polizei-internen Widerstände behauptet, die niemals locker lässt. Dass dies zu Stress in der Beziehung führt, ist eine Krimi-übliche Volte, aber es bleibt bei einer einzigen weiteren Szene mit dem Freund. Der wirft ihr vor, dass sie den gemeinsamen Kinderwunsch insgeheim gar nicht teilt. Tobler rennt beleidigt aus dem Zimmer – und stürzt sich am Laptop gleich wieder in den Fall. Kommissar Berg wiederum steht vor der Frage, ob er den elterlichen Hof aufgeben soll, auf dem seit Generationen Zibärtle gebrannt wurde. Er ist sichtlich von Volkmar Böttger und der Arbeit auf dem „Sonnenhof“ beeindruckt: „Was die da machen, das ist wirklich Bio.“ Die Bewunderung trübt allerdings seinen Blick für die wahren Zusammenhänge, und es deutet sich an, dass es in der langjährigen Arbeitsbeziehung mit Tobler Empfindlichkeiten gibt – was ohne großes Getöse Raum für die weitere Entwicklung des Teams öffnet.
Das verdächtige Verhalten Torstens haben die Zuschauer den Kommissaren voraus, doch Drehbuch und Regie setzen weniger auf vordergründige Spannung, sondern auf ein nach und nach sorgsam entwickeltes Geflecht aus Beziehungen, Motiven und Konflikten. Warum bittet Mechthild Böttger (Janina Fautz) ihre sterbende Schwester Sonnhild um Verzeihung? Welche Rolle spielt Torsten in der Familie? Was verrät das von Sonnhild versteckte Handy noch? Meist folgt die Erzählung der Perspektive der Kommissare, ab und zu gibt Autor Patrick Brunken dem Publikum wieder einen kleinen Vorsprung, ohne zu früh zu viel zu verraten. Kommissarin Tobler fallen als Erste die Parallelen zu einem anderen Fall auf. Der Kronzeuge, der vor dem V-Mann-Untersuchungsausschuss in Stuttgart gegen die rechtsextreme Heimatschutz-Staffel aussagen sollte, starb ebenfalls plötzlich an Diabetes. Und trug wie Torsten dasselbe Tattoo auf dem Arm: Zwei gekreuzte Äxte in einem Kreis aus Stacheldraht.
Man könnte kritisieren, dass die Sache mit dem Verfassungsschutz, den Neonazis und den V-Leuten in jüngster Zeit auch fiktional nicht gerade selten thematisiert wurde. Brunken und Regisseur Umut Dag gehen in „Sonnenwende“ allerdings eigene Wege: Zum einen durch die Verknüpfung von Bio-Landwirtschaft und rechtsextremer Ideologie. Auch das wird ganz klein erzählt, mit einem genauen, feinfühligen Blick auf eine Außenseiter-Familie. Die Böttgers sind irgendwie gestrige, aber nicht unsympathische „Hardcore-Ökos“ (Tobler). Handys sind verboten, ja und? Dafür sind die Böttgers fleißig und hilfsbereit und setzen auf heimische Arten. Städter dagegen „gehen in den Bio-Markt und denken, sie haben selber angebaut“, ätzt Volkmar Böttger. Die Kamera kostet die Schönheit des Landlebens und der Landschaft aus, und klingt es nicht herrlich, wenn die Frauen bei der Ernte singen: „Und die Morgenfrühe, das ist unsere Zeit“?, ein von Hans Baumann verfasstes Lied für die Hitlerjugend. Auch ästhetisch belegt der Film die verführerische Verbindung von Naturromantik (à la Caspar David Friedrich, den die Nazis für ihre Ideologie missbrauchten), Heimattümelei und Rassenwahn. Ein unheimliches Idyll. Zum anderen wird auch die V-Mann-Affäre nicht als großspuriger Politthriller, sondern eher als Gewissensdrama inszeniert. Und so kommen noch zwei wichtige Nebenfiguren, Jörg Witte als Staatsschützer und Christina Große als Gerichtsmedizinerin, ins Spiel. Sowie die Frage, was man für das „Staatswohl“ eigentlich alles opfern darf.